Interview

Von Bremen zurück in den Krieg: Darum ging diese Ukrainerin nach Hause

Ein Mann mit Kleinkind auf dem Arm, eine schlanke Frau mit einem jungen Kind an der Hand.
Natallia Krauchanka mit ihrem Mann und ihren Kindern am 10. Mai an der Grenze Polens zur Ukraine. Bild: Natallia Krauchenko | Natallia Krauchenko

Natallia Krauchanka ist mit ihren Kindern wieder in der Ukraine, in Lwiw bei ihrem Mann. Täglich hören sie Sirenen. Sie spricht über ihre Gründe und ihr aktuelles Leben.

Natallia Krauchanka lebte zwei Monate in Bremen. Mit ihrem damals neun Monate alten Sohn und ihrer fünfjährigen Tochter war sie im März geflohen, ihr Mann war in der West-Ukraine, in Lwiw, zurückgeblieben. Die 36-Jährige kennt die Region, sie hat in Oldenburg studiert und sie spricht fließend Deutsch. Faktoren, die es ihr einfacher machen dürften, hier Fuß zu fassen. Trotzdem kehrte Natallia Krauchanka am 10. Mai zurück in die Ukraine.

Mit buten un binnen hat sie über die Gründe für diesen Schritt gesprochen. Darüber, wie ihre Familie aktuell in Lwiw lebt und über Gefühle – auch gegenüber Deutschland. Unsere Autorin erreicht Krauchanka am vergangenen Freitagnachmittag in ihrer Wohnung per Video-Schalte. Im Hintergrund hört man das Gebrabbel eines Kleinkindes.

Frau Krauchanka, Sie sind in Lwiw in Ihrer Wohnung. Wie geht es Ihnen gerade?

Die Frage kann ich gar nicht so richtig beantworten. Es ist gerade Alarm. Das passiert aber schon das dritte Mal heute – aber ich glaube, in Lwiw machen sich die Menschen nicht mehr so viele Sorgen. Wir gehen nicht mehr jedes Mal in den Keller. Wir gehen in ein anderes Zimmer, in dem die Wände dicker sind, und warten die ersten 20 bis 25 Minuten ab. Wenn in dieser Zeit nichts passiert, dann hoffen wir, ist auch mehr oder weniger ok. Es gibt gute Apps, die informieren uns.

(Natallia hält ihr Smartphone in die Kamera mit einer Karte der Ukraine, die meisten Gebiete sind rot markiert, dort ist Alarm. Natallia spielt den Ton einer heulenden Sirene vor.)

Ja – und mein Mann hat vor etwa einem Monat die Einberufung bekommen, da war ich noch in Bremen. Bei der Musterung haben sie gesagt, dass sie ihn im Moment nicht brauchen. Er hat keine Erfahrung. Seitdem sollte er sich einmal in der Woche melden. Und heute haben sie gesagt, er soll schon am Montag wiederkommen. Jetzt überlege ich die ganze Zeit, was wir machen, falls er gehen muss. Nichts ist sicher im Moment.

Eine Frau hält ein Smartphone in eine Kamera auf der eine Karte ist mit roten markierten Gebieten.
Natallia Krauchanka zeigt eine App, die anzeigt, welche Gebiete in der Ukraine aktuell von Alarm betroffen sind. Bild: Radio Bremen | Screenshot

Was hat bei Ihnen dazu geführt, dass Sie in diese unsichere Lage zurück wollten?

Meine Kinder und ich waren in Bremen zwei Monate im Ausland. Mein Mann war nicht in der Armee, sondern zu Hause. Und man kann nicht sagen, dass es in Lwiw supergefährlich ist. Wir hören immer wieder die Sirenen, aber sonst ist es ok.

Gut, vor ein paar Tagen haben wir uns in der Nacht echt erschreckt. Da haben wir auch Explosionen gehört. Dann haben wir am nächsten Morgen gelesen, dass eine Militärbasis in der Nähe der Stadt angegriffen wurde. In dieser Nacht haben wir nicht gut geschlafen, das ist klar.

Aber als wir in Bremen waren, hat mein Mann uns vermisst, die Kinder haben den Vater vermisst, zwei Monate lang – und man weiß nicht, wie lange es noch geht. Und wir dachten, falls er in die Armee gehen muss, wäre es gut, wenn wir uns vorher noch einmal sehen.

Ich habe auch gelesen, dass eine solche Trennung, die zurzeit viele ukrainische Familien erleben, sehr schlecht sein kann, dass viele Familien auseinander brechen werden. Als mein Mann in der Ukraine und wir in Deutschland waren, hatten wir getrennte Leben. Wir haben miteinander gesprochen und uns übers Internet gesehen, ja, aber das ist nicht das Gleiche. Und dann haben wir gesagt, wenn es nicht supergefährlich ist, wäre es gut, zurückzukommen.

Wie ist das Leben im Moment in Lwiw? Das ist ja im Westen, nahe der polnischen Grenze. Im Vergleich zu anderen Regionen wurde Ihre Stadt von massiven Angriffen verschont, doch auch in Lwiw starben Menschen.

Am Anfang war fast alles geschlossen, jetzt ist alles wieder geöffnet. Ich war zum Beispiel schon beim Augenarzt. Und im Supermarkt gibt es alles, auch genug Lebensmittel. Aber die Preise sind stark angestiegen. Weil ich zwei Monate nicht da war, merke ich das sehr, weil die Lebensmittel teilweise doppelt so viel kosten. Auch die Banken sind geöffnet. Als mein Mann heute dort in der Schlange gewartet hat, begann die Sirene zu heulen. Und dann wurde die Bank geschlossen. Dann müssen alle Menschen Schutz suchen. Termine dauern dann länger. Was aber in der Tat schwierig ist, ist das Tanken. Viele Tankstellen sind einfach geschlossen, andere haben Benzin, aber nur eine Sorte, und da steht schon eine lange Schlange von Autos. Und das obwohl die Preise um mehr als das Doppelte gestiegen sind. Aber viele Menschen sind auf der Straße, auch viele Kinder, im Park, die Straßen sind voll – das Leben geht weiter.

Wovon leben Sie, haben Sie Arbeit?

Im Moment ist es weniger als früher, weil es schwierig ist in der Situation. Aber ich unterrichte Sprachen. Ich war sieben Jahre in Oldenburg, habe Slawistik studiert und auch am Institut für Slawistik gearbeitet. Jetzt unterrichte ich, und das macht mir viel Spaß, deutsch und englisch. Mein Mann ist Physiklehrer. Im Moment unterrichtet er seine Schüler online. Viele von ihnen sind gar nicht mehr in Lwiw: Manche irgendwo auf dem Lande, manche auch im Ausland. Die Schule geht noch bis zum 10. Juni. Und in der Schule, in der er arbeitet, ist er für den Keller zuständig. Wenn die Sirenen heulen, laufen dort manche Menschen hin, vor allem nachts. Dann muss die Tür geöffnet werden. Das macht er auch regelmäßig. Außerdem unterrichtet er noch ukrainisch als Fremdsprache und hat immer noch ein paar Schüler im Online-Unterricht.

Ein etwa fünf Jahre altes Mädchen steht im Schatten an Springbrunnen vor einem historischen Gebäud, die Sonne scheint.
Natallias Tochter am vergangenen Donnerstag, 19. Mai, im Lwiw. So friedlich kann es in der Stadt wirken. Bild: Natallia Krauchenko | Natallia Krauchenko

Sie machen einen gefassten Eindruck auf mich. Wie es Ihnen geht, haben Sie zu Beginn nicht wirklich beantwortet. Wollen Sie lieber nicht darüber sprechen?

Hm. Man lernt irgendwie auch damit zu leben. In den ersten Wochen war es natürlich sehr, sehr schwierig. Meine Tochter versteht schon viel, aber ich wollte ihr nicht noch mehr Angst machen, indem ich weine. Ich habe versucht, mich normal zu benehmen, sodass die Kinder nicht so viel mitkriegen. Ich habe inzwischen die ganze Zeit über geübt und gelernt, so weiterzuleben. Gleichzeitig bin ich nicht sicher, ob ich immer so stark bin. Ich wache auch nachts auf und bin unsicher, was ich machen soll. Vielleicht zeige ich das nicht. Wir sind Christen, ich bin gläubig und glaube auch an Gott. Ich bete dann auch und das gibt mir Kraft. Wenn man die ganze Zeit emotional ist, ist das unmöglich. Also jetzt schon drei Monate. Das kann man nicht aushalten, oder?

Ist es momentan eher ein "Aushalten" oder "Durchhalten"?

Ich habe auch irgendwo gelesen, dass man im Moment einfach durchhalten sollte. Diese emotionale Seite und alles, das kann später kommen – ich weiß nicht, ob das richtig ist, kann sein. Ich lese viele Nachrichten, und ich merke zum Beispiel, dass diese Bilder mich irgendwie mit der Zeit doch weniger beeindrucken, als ob man bestimmte Schutzwände gebaut hat. Die Familie muss weiter funktionieren. Aber meine Tochter hat schon Fragen. Sie hat, nachdem wir schon geflohen waren, ein Flugzeug am Himmel gesehen und gefragt: "Ist das Flugzeug gut oder böse? Schießt es oder nicht?" Oder sie rennt mit ihrer Puppe die Treppe herunter und ruft "Sirenen, Sirenen." Sie spielt, was sie erlebt.

Verstehen Sie, dass die meisten Geflüchteten sich trotz großer Sehnsucht nicht trauen, zurückzugehen? Auch nicht nach Lwiw?

Ja, natürlich. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele immer noch viel Angst haben, vor allem mit Kindern. Am Anfang sind wir auch noch jedes Mal, wenn die Sirenen heulten, in den Keller gelaufen. Mit der Zeit dann nicht mehr. Ich habe heute beobachtet, was die Menschen draußen machen. Wenn sie die Sirene hören, laufen nicht alle weg. Einige Leute entscheiden sich: "Ok, ich lebe einfach weiter. Die Sirenen heulen nicht zum ersten Mal, nicht zum letzten Mal." Ich sehe erwachsene Leute, die für sich selbst so entscheiden. Aber mit kleinen Kindern denken natürlich viele: "Es ist nicht nur mein Leben, sondern auch das meiner Kinder. Und ich habe die Verantwortung."

Eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß.
Natallias Sohn ist heute elf Monate alt und hat zwei Monate in Bremen als Geflüchteter verbracht. Bild: Radio Bremen | Screenshot

Sie erfahren in den Nachrichten ja auch, wie es in anderen Städten in der Ukraine aussieht. In Mariupol, Charkiw, Luhansk, also im Osten des Landes. Was glauben Sie, wie es weiter geht?

Ich glaube, oder ich hoffe, dass die Ukraine gewinnt. Ein Freund von uns ist schon am ersten Tag freiwillig in die Armee gegangen und ist jetzt im Osten. Und dann noch einer und noch einer – und ein anderer guter Freund ist seit zirka einem Monat in der Armee. Und seine Frau ist hier, sie will nicht weggehen. Wir waren zwei Tage in den Karpaten in einem kleinen Hotel. Normalerweise sind dort nur im Winter Menschen zum Skifahren. Ich habe nicht damit gerechnet, dass jetzt jemand da ist. Doch das Hotel war voll, sehr viele Menschen aus dem Osten wohnen zurzeit dort. Alle sprechen über den Krieg – und Leute sind bereit zu kämpfen, und auch bereit zu opfern. Mein Mann sagt. "Natürlich wäre es mir lieber, wenn ich jetzt nicht in die Armee gehen würde." Aber er würde sich keine Ausreden einfallen lassen, damit er bleiben kann. Ja, es ist gefährlich, das versteht er auch. Aber er ist bereit. Und das sehe ich bei vielen.

(Natallia hört auf zu sprechen, blickt auf ihr Smartphone und sagt: "Ich glaube, die Sirene ist vorbei. Die ganze Karte war rot, und jetzt werden Gebiete grau. Leute können jetzt rausgehen, jetzt ist es sicher." Eine metallische Stimme erklingt und verkündet auf ukrainisch das Ende des Alarms.)

Woher nehmen Sie Ihre Zuversicht?

Natürlich ist es dort, wo gekämpft wird, schlimm. Ich weiß jetzt auch noch nicht, wie die Städte wiederaufgebaut werden. Ich hoffe, dass die Ukraine dann viel Hilfe bekommt.

Hier in der Nähe gibt es eine Werkstatt, die vor ein paar Wochen bombardiert wurde. Wir fahren da immer vorbei, wenn wir zum Arzt müssen. Neun Menschen wurden dort getötet. Das Gebäude hat immer noch kein Dach, aber sie haben wieder geöffnet. Es hängt ein Plakat draußen mit der Aufschrift: "Wir sind stark, wir arbeiten wieder. Der Wiederaufbau braucht natürlich Zeit. Aber das Wichtigste ist, dass Russland verjagt wird und nie wiederkommt. Das Andere schaffen wir schon. Ich lese auch in Gruppen im Internet, dass die meisten Menschen aus dem Ausland zurück kommen wollen. Sobald es nicht mehr gefährlich ist, kommen die Menschen zurück und sind bereit zu arbeiten.

Der Wiederaufbau braucht natürlich Zeit. (...) Ich lese auch in Gruppen im Internet, dass die meisten Menschen aus dem Ausland zurück kommen wollen. Sobald es nicht mehr gefährlich ist, kommen die Menschen zurück und sind bereit zu arbeiten.

Natallia Krauchanka, Ukraine-Rückkehrerin

Und jetzt warten Sie, was Montag passiert – ob Ihr Mann in die Armee muss oder nicht?

Ja. Wir können nichts planen. Aber auch bis Montag kann sich viel ändern. Ich habe heute mit einer Freundin gesprochen, und ich habe gesagt, dass ich alle fünf Minuten auf mein Smartphone gucke, ob vielleicht doch etwas passiert ist. Ich möchte nichts verpassen. Ich erwarte irgendwie eine Supernachricht, die bis jetzt noch nicht gekommen ist, die, glaube ich, viele erwarten. Dann muss ich nicht mehr nach Deutschland, dann muss mein Mann nicht mehr in die Armee.

Was kann das für eine Nachricht sein?

Es gibt einige Möglichkeiten. Auf jeden Fall bedeutet das, dass der Krieg dann vorbei ist. Nicht so, dass Russland sich hier ein Gebiet nimmt und für zwei Jahre Ruhe ist. Sie müssen wirklich gestoppt werden – und ja, das darf ich auch sagen (seufzt) – dafür braucht die Ukraine gute Waffen. Das ist jetzt sehr wichtig.

Sagen sie das Richtung Deutschland?

Ich habe gelesen, im Juli will Deutschland Panzer schicken. Aber warum bis Juli warten? Viele von diesen guten Leuten, die in die Armee gehen, können bis Juli sterben. Als ich in Deutschland war, gab es Demonstrationen für den Frieden. Keine Waffen – einfach Frieden. Diese Leute leben in einer anderen Welt. Putin spricht diese Sprache nicht. So viele Menschen sterben, Kinder sterben – mit ihm muss man auch diese Sprache sprechen. Deshalb braucht die Ukraine schwere Waffen.

Ärgern Sie sich über die deutsche Politik bei dieser Frage?

Das ist wieder eine schwierige Frage. Ich glaube, Deutschland überlegt sich jetzt noch etwas. Aber in Europa passiert alles sehr langsam. Nicht nur in Deutschland, sondern generell in Europa – oder sehen Sie das anders? Wenn Sie das schreiben, dann schreiben Sie, dass die Ukrainer Waffen brauchen – gute Waffen, dass sie richtig kämpfen können. Sie sind bereit. Sie kämpfen nicht für irgendeine Idee, sie kämpfen für ihre Familien und für ihr Land. Das muss Europa verstehen. Wenn Putin jetzt nicht gestoppt wird hier, dann kann es für ganz Europa gefährlich werden.

Würden Sie wieder nach Bremen kommen, wenn Ihr Mann in die Armee muss?

Ehrlich gesagt, weiß ich es noch nicht. Seit heute überlege ich wieder, ob wir nach Deutschland fahren – für eine kurze oder nicht so kurze Zeit. Wenn er am Montag gehen muss, müssen wir uns gut überlegen, wie wir weitermachen.

Rüstungskonzerne verdienen am Krieg: Demonstration gegen Rheinmetall

Bild: Radio Bremen

Autorin

  • Autorin
    Birgit Reichardt Redakteurin und Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 30. Mai 2022, 19:30 Uhr