Interview

Doku-Serie gibt den Opfern von Patientenmörder Niels Högel eine Stimme

Bild: Radio Bremen

Ein Team von Radio Bremen hat an dem Vierteiler "Schwarzer Schatten" zur größten Mordserie der Nachkriegsgeschichte mitgearbeitet. Regisseur Steffen Hudemann gibt Einblicke.

Fast fünf Jahre lang tötete der Pfleger Niels Högel in Oldenburg und Delmenhorst Patientinnen und Patienten. 2019 wurde er wegen Mordes in 85 Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die True Crime-Doku-Serie von Kinescope Film für Sky Deutschland in Ko-Produktion mit Radio Bremen befasst sich umfassend mit dieser Mordserie, spricht dafür erstmals mit den Ermittlern der ersten Stunde, gibt Opfern und Hinterbliebenen eine Stimme und erklärt, warum der Fall auch in anderen Krankenhäusern möglich war und ist.

Die Doku-Serie über die Mordserie Niels Högels heißt "Schwarzer Schatten". Warum habt ihr euch für diesen Titel entschieden?

Dahinter steckt, dass Högel als Täter eigentlich nie sichtbar war. In den Krankenhäusern in Oldenburg und Delmenhorst war er wie ein Schatten. Und das, obwohl er ja eigentlich immer im Mittelpunkt stehen wollte. Seine Morde werfen auch ein düsteres Bild auf einen ja eigentlich weißen Beruf. So fällt dieser Schatten auch auf das System Krankenhaus.

Für die ARD habt ihr eine 45-Minuten-Dokumentation gedreht, für den Privatsender Sky Deutschland sogar eine vierteilige Serie. Letzteres ist im Fernsehen eher eine Rarität. War es von vornherein so geplant?

Es war schon so konzipiert, dass es ein Mehrteiler wird. Schließlich handelt es sich um den größten Serienmord der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und wir wollten uns jenseits der Nachrichtenberichterstattung die Zeit nehmen, da nochmal tief in die Materie einzusteigen. Darüber hinaus haben sich die Sehgewohnheiten verändert. Im linearen Fernsehen erwartet man eher eine 45-minütige Dokumentation, die ARD-Mediathek oder Streaming-Dienste bietet hingegen den Raum für serielles Erzählen.

Ihr habt euch für ein True Crime-Format entschieden, in dem ihr Interviews mit Betroffenen und nachgestellte Szene mischt. Wie habt ihr sichergestellt, dass Fakten und Information im Vordergrund stehen – und nicht der Aspekt der Unterhaltung?

Wir wollten in der Tat nicht nur Nervenkitzel und Kinogrusel produzieren, sondern vor allem journalistische Fragen stellen. Allem voran: Wie konnte das passieren? Dabei hatten wir grundsätzlich erstmal das Problem, dass es für die Taten und die Vorgänge im Krankenhaus selbst natürlich keine Bilder gab. Wir haben die Szenen dann in einem Krankenhaus mit Schauspielern recht aufwendig nachgestellt.

Das heißt, die Szenen haben eine Spielfilm-Optik, ohne ein Spielfilm zu sein. Denn wir haben uns bewusst entschieden, keine Dialoge oder schauspielerischen Elemente mit reinzunehmen. Vieles in den Szenen haben wir im Ungefähren gelassen. Wir zeigen selten Gesichter, auch Niels Högel ist immer nur von hinten zu sehen. Dennoch haben wir uns stets an die dokumentierten Fakten gehalten – Gerichtsprotokolle, Vernehmungsprotokolle und so weiter.

Doku-Serie "Schwarzer Schatten - der Serienmörder Niels Högel"
Das Erste zeigt am Montag (16. Mai, 22:50 Uhr) eine 45-minütige Fassung der Dokumentation in die "Story im Ersten". Bild: Radio Bremen

Welchem roten Faden folgt die Dokumentation?

Es war nicht ganz einfach, eine Dramaturgie zu finden. Wir haben die Doku-Serie schließlich in vier Themenblöcke aufgeteilt: die Opfer, der Tatort, die Ermittlungen und der Prozess. Wir hätten es auch konsequent chronologisch erzählen können. Wir fanden aber auch die Perspektive der Ermittler der Kripo in Delmenhorst sehr spannend, die den Fall von vornherein begleitet und früh geahnt haben, was da los ist – ohne dass ihnen jemand Glauben schenkte. Gleichzeitig haben wir nach Möglichkeiten gesucht, die Versäumnisse in den Krankenhäusern zu zeigen.

Hat es dich überrascht, dass solche Mordfälle in Krankenhäusern auch anderswo passiert sind und passieren?

Ja, das habe ich so nicht gewusst. Man liest immer wieder von solchen "Todesengeln", wie sie fälschlicherweise bezeichnet werden. Dass es aber so viele Fälle dieser Art gibt, das hat mich überrascht. Auch dass es in den Krankenhäusern scheinbar noch nicht so bekannt ist. Da ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig. Und auch dazu will die Dokumentation beitragen.

Schon jetzt ist die Doku in der ARD-Mediathek verfügbar. Gab es schon Rückmeldungen der vielen Betroffenen und Beteiligten? Mit rund 30 von ihnen habt ihr ja selbst gesprochen.

Ja, tatsächlich. Und es waren ausnahmslos positive Rückmeldungen. Es ist uns offenbar gelungen, den Fall so zu erzählen, dass die Opfer sich darin wiederfinden, dass auch ihre Geschichte erzählt wurde, ihnen eine Stimme gegeben werden konnte. Das gilt zum Beispiel für Matthias Corssen.

Er wird an diesem Freitag zu Gast bei "3nach9" sein.

Ja. Er ist ein ehemaliger Freund Högels. Und er wurde selbst Opfer eines Mordversuchs. Er hatte jetzt zum ersten Mal die Möglichkeit, die Geschehnisse aus seiner Perspektive zu erzählen und zu verarbeiten. Das Gleiche gilt auch für Oliver Lenz, den Kriminalkommissar aus Delmenhorst. Für ihn war es glaube ich auch eine Erleichterung, dass er jetzt die Gelegenheit bekommen hat, die Geschichte nochmal zu erzählen.

30.01.2019, Niedersachsen, Oldenburg: Der wegen Mordes an 100 Patienten angeklagte Niels Högel (2.v.l.) wird am Prozesstag von Justizvollzugsbeamten in den Gerichtssaal geführt.
Niels Högel: "Zweifelhafte" Aussagen vor Gericht. Bild: dpa | Mohssen Assanimoghaddam

Habt ihr darüber nachgedacht, auch Niels Högel selbst zu interviewen?

Natürlich mussten wir uns die Frage stellen, ob wir ihn selbst hören wollten. Wir haben uns aber dagegen entschieden, weil wir ihm erstens keine Bühne bieten wollten, um erneut im Mittelpunkt stehen. Zweitens hat Högel in Verhören und vor Gericht wiederholt gelogen. Ein Interview hätte daher aus unserer Sicht wenig Erkenntnis gebracht. Seine Anwältin kommt aber zu Wort.

Du hast dich jetzt so intensiv mit den Morden Niels Högels auseinandergesetzt. Was bewegt dich mehr: Dass ein Mensch sich so entwickeln konnte oder dass der Fall Högel überhaupt in diesem Ausmaß möglich war?

Letzteres. Ich glaube, man wird es nie verhindern können, dass es im Krankenhaus arbeitende Menschen gibt, die aus welchem Grund auch immer die Gelegenheit nutzen, dort zu töten. Denn das Krankenhaus ist im Grunde der perfekte Tatort. Man hat alle Mordwerkzeuge zur Hand und kann die Tat weitgehend unbemerkt ausführen.

Umso wichtiger ist es, dass Systeme vorhanden sind, die diese Taten, wenn sie vorkommen, schnell erkennen und weitere verhindern. Das ist ja das Tragische, dass es in diesem Fall nicht erkannt wurde und er Jahre lang morden konnte. Schlimmer noch: Es wurde nicht nur nichts unternommen, sondern sogar bewusst weggeschaut. Sein Arbeitgeber in Oldenburg hat ihm ja sogar noch ein gutes Zeugnis ausgestellt. Das ist etwas, was man an diesem Fall wirklich nicht begreifen kann.

Wird die Aufbereitung der Mordserie jemals ein Ende finden?

Die Dunkelziffer wird riesig sein. Die Situation aus Sicht der Opfer ist allerdings so, dass das Gericht die Taten nun abgeurteilt hat. Jetzt geht es um die Verantwortlichen. Es gibt ja derzeit noch einen Prozess in Oldenburg gegen ehemalige Vorgesetzte von Niels Högel. Wozu der führen wird, wissen wir nicht. Högel hat dort bereits ausgesagt. Das hat aber keine neuen Erkenntnisse gebracht. Und es überrascht auch nicht, weil seine Aussagen auch vorher zweifelhaft waren. Die ganze Wahrheit kennt niemand, wohl nicht einmal der Mörder selbst.

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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 13. Mai 2022, 19:30 Uhr