Interview

Bremer Experte verrät: Dieser Kitt hält eine Gesellschaft zusammen

Ältere Menschen auf dem Weg zum Supermarkt.

Wahlprogramm-Check zur Bürgerschaftswahl: Gesundheit und Pflege

Bild: dpa | Pieter Stam de Jonge

Eine alternde Gesellschaft stellt große Herausforderungen an unsere Stadtteile und Gemeinden. Ein Bremer Experte erklärt, wie sie zu meistern sind.

Immer mehr Menschen gehen in Rente und die Lebenserwartung steigt dank medizinischem Fortschritt. Selbst wenn in den vergangenen Jahren durch Migration mehr junge Menschen gekommen als weggezogen sind, ist die Hälfte der deutschen Bevölkerung älter als 45 Jahre, jeder Fünfte befindet sich bereits im Rentenalter. Bremen ist da keine Ausnahme.

Dieser demografische Wandel stellt nicht nur das Land, sondern auch die Kommunen und die einzelnen Stadtteile vor große Herausforderungen. Wie man damit am besten umgehen könnte, erläutert der Bremer Altersforscher Stefan Görres.

Prof. Görres, eine alternde Gesellschaft kann Herausforderungen mit sich bringen – für die Gemeinden genauso wie für die Menschen. Welche sind die größten?

Die größte Herausforderung ist: Wie ist sicherzustellen, dass ältere Menschen ein hohes Maß an Lebensqualität und Wohlbefinden in ihren Gemeinden vorfinden? Und Lebensqualität heißt: ausreichende finanzielle Ressourcen, ausreichende gesundheitliche Ressourcen und ausreichende Ressourcen, was die Teilhabe am kulturellen Leben betrifft. Das sind Dinge, die jede Gemeinde im Sinne der Daseinsfürsorge sicherstellen muss.

Gut, diese Ressourcen brauchen wohl Menschen in jedem Alter.

Das ist natürlich richtig. Jeder Mensch braucht sie – Menschen im Alter auch. Jetzt kommt aber hinzu, dass viele ältere Menschen in einer besonderen Situation sind. Sie sind häufiger pflegebedürftig. Sie sind häufiger krank. Sie leben häufiger allein und in nicht altersgerechten Wohnungen. Sie sind nicht selten einsam.

Sie können auch nicht mehr so gut wie früher am kulturellen Leben teilhaben, denn viele sind immobil und an die eigenen vier Wände gebunden. Öffentliche Verkehrsmittel oder ein Auto sind nicht immer vorhanden.

Auch die Gesundheitskompetenz, also die Fähigkeit, sich konkrete Information über Gesundheit, Pflege und Versorgung zu beschaffen, fällt vielen älteren Menschen schwerer. Kurzum: Nicht jeder ältere Mensch verfügt über die für ein gutes Leben notwendigen Ressourcen oder kann sie sich beschaffen.

Etwa die Hälfte der älteren Menschen in Bremen hat keine ausreichenden Gesundheitskompetenzen, so das Ergebnis einer Studie.

portrait von Stefan Görres
Stefan Görres, Forscher Universität Bremen

Was können Stadtteile und Gemeinden dann tun, um den Menschen zu helfen?

Man braucht zuerst eine Art Lupe für den geschärften Blick in die Stadtteile, um zu sehen, wo und wie die Menschen leben. Denn es gibt natürlich auch einen Großteil älterer Menschen, die diese Ressourcen haben und denen es sehr gut geht. Die sind aber auf die Stadtteile betrachtet sehr unterschiedlich verteilt. Man muss also genau schauen, welche Bedürfnisse und Bedarfe konkret vorhanden sind und welche Herausforderungen daraus für eine Gemeinschaft erwachsen.

Je genauer eine Kommune diese kennt, umso eher kann sie maßgeschneiderte Hilfen anbieten. Der kleinteilige Blick in die Stadtteile und Quartiere ist eine riesige Chance, um vorhandene Defizite zu erkennen und abzumildern.

Und wie kann man dann diese Defizite ausgleichen? Welche Lösungen sind möglich?

Eine Lösung im finanziellen Bereich ist natürlich in erster Linie eine Frage der Rente und damit des Bundes. Anders dagegen bei Sozialhilfe. Gegen Isolation und Einsamkeit bieten sich niederschwellige Angebote in den Stadtteilen an, wo sich die Menschen beraten lassen oder Veranstaltungen besuchen können. Oft kostenfrei und ohne große Hürden.

Bei Immobilität haben sich hingegen Hausbesuche bewährt. Ehrenamtliche und Nachbarschaftshilfen sind natürlich ebenfalls von größter Wichtigkeit, weil wir immer weniger Profis haben, die sich kümmern können. Aber wir brauchen vor allen Dingen auch eine bessere pflegerische Versorgung und eine höhere Ärztedichte. In einigen Stadtteilen ist die Situation tatsächlich unbefriedigend. Eine Lösung wären lokale Gesundheitszentren, die Bremen auch schon teilweise errichtet hat. Für Menschen mit Migrationshintergrund kommen hierzu auch Dolmetscherdienste in Frage.

Hat diese Gruppe andere Herausforderungen als die anderen?

Ja, ganz klar. Es sind teilweise die Sprachbarrieren. Zum Beispiel, um pflegerische oder gesundheitliche Angebote zu finden und um Informationen darüber zu bekommen, was einem zusteht. Hinzu kommt: Gerade in dieser Zielgruppe gibt es viele Menschen, die in einer weniger guten Lebenslage sind. Hier trifft also eine schlechte soziale auf eine schlechte finanzielle und gesundheitliche Lebenslage.

Sie haben einige Lösungen für die Probleme einer alternden Gesellschaft bereits erwähnt. Wie weit ist man damit in Bremen, was könnte noch helfen?

Was wir in Bremen und auch in vielen anderen Bundesländern nicht haben, sind Daten auf Stadtteilebene, die uns zeigen, wo die Menschen leben, die einen besonderen Bedarf haben. In Bremen haben wir auf Bezirksebene sehr viele Daten, aber sie sind nicht so aussagekräftig wie Daten aus Stadtteilen und Quartieren.

Und was wir auch brauchen, sind vermehrt präventive Hausbesuche: ein Angebot, das sich in anderen Städten sehr bewährt hat. Ebenso notwendig sind noch mehr lokale Gesundheitszentren. Eine ganz hervorragende Möglichkeit bietet zudem das Konzept der Quartiersmanager und -managerinnen, das sich in Bremen in vielen Stadtteilen erfolgreich etabliert hat und unbedingt verstärkt werden sollte.

Sie haben die gesundheitliche Versorgung angesprochen. Es herrscht aber gerade Fachkräftemangel. Haben wir genug Menschen, um solche Angebote zu gewährleisten?

Das ist inzwischen eine ganz zentrale Frage. Aktuell stoßen wir in ganz Deutschland an spürbare Grenzen, sowohl beim medizinischen als auch beim pflegerischen Personal. Die Herausforderung besteht darin, nicht nur mehr Personal einzustellen, sondern auch Alternativen zu finden.

Bei den Ärztinnen und Ärzten ist es nicht ganz so dramatisch: Bremen hat, statistisch gesehen, keinen ausgesprochenen Mangel. Das Entscheidende ist, dass nicht alle Stadtteile gleich gut versorgt sind. Hier muss man schauen, welche Anreize man schaffen kann, dass Ärztinnen und Ärzte sich auch verstärkt in den benachteiligten Stadtteilen niederlassen.

Zusätzlich muss man überlegen, welche alternativen Formate es gibt. Die Gesundheitszentren gehören dazu. Und: Der Wille, sich freiwillig und ehrenamtlich zu engagieren, um das Angebot zu ergänzen, ist gerade bei älteren Menschen sehr hoch. Hier gibt es noch ungenutztes Potenzial.

Wie meinen Sie das?

Studien zeigen, dass ganz viele Seniorinnen und Senioren nicht nur einen sehr hohen Anteil ungenutzter Freizeit haben, sondern auch bereit wären, ihre Freizeit zu opfern, um anderen zu helfen. Und das aktivieren wir nicht genug. Wir rufen das als Gemeinschaft nicht ab, machen keine entsprechenden Angebote.

Das wäre aber eine Win-win-Situation: Diejenigen, die sich engagieren wollen, finden eine Möglichkeit, dies je nach Interesse und Zeit zu tun. Denjenigen, die Hilfe brauchen, wird geholfen. Und insgesamt werden damit auch Solidarität und Gemeinschaftssinn gefördert. Das ist der Kitt, der jede Gemeinde zusammenhält und den wir mehr denn je brauchen.

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Bild: Radio Bremen

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Autorin

  • Serena Bilanceri
    Serena Bilanceri Autorin

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 2. Mai 2023, 06:36 Uhr