"Klein-Manhattan" in Bremen – vom Prestigeprojekt zum Getto und zurück

Als Vorzeigeobjekt geplant, wandelte sich Osterholz-Tenever schnell zum krassen Gegenteil. 50 Jahre später gilt das einstige Demonstrationsbauvorhaben als Erfolg.

Im Zweiten Weltkrieg wurden große Teile Bremens durch Luftangriffe zerstört. Die Menschen flohen, wurden evakuiert, deportiert oder starben bei den Angriffen auf die Stadt. Die Zahl der Einwohner sank dadurch etwa auf 289.000 Menschen zum Kriegsende. Durch die Rückkehr der in ländliche Gebiete evakuierten Bremerinnen und Bremer, den Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen aus östlichen Gebieten, wuchs Bremen bis 1947 schnell wieder auf über 400.000 Einwohner an.

Wohnraum ist knapp

Durch die Zerstörungen war Wohnraum knapp, etwa 100.000 Wohnungen fehlten. Häuser wurden wenn möglich wieder aufgebaut, die Menschen lebten aber nicht selten in Baracken oder Kleingärten. Neuer Wohnraum musste her. Der nahezu komplett zerstörte Bremer Westen wurde wieder aufgebaut, in der Vahr entstand ab Mitte der 1950er eine neuartige Gartenstadt und in der Neuen Vahr entstand bis 1961 ein Quartier mit 10.000 neuen Wohnungen – damals das größte Bauvorhaben Europas.

Tenever – Stadt der Zukunft?

Bremen war inzwischen auf rund 564.000 Einwohner angewachsen und die Prognosen sagten 750.000 bis hin zu einer Million Bremerinnen und Bremer für die kommenden Jahrzehnte voraus. Ende der 1960er-Jahre begannen die Planungen für ein Wohngebiet in Osterholz-Tenever. Hier sollte modellhaft gezeigt werden, wie moderner Wohnungsbau der Zukunft aussehen würde. Etwa 2.500 Wohnungen würden entstehen, darunter auch Einfamilienhäuser. Das Ziel aber war, ein "Demonstrativbauvorhaben" zu schaffen, welches wissenschaftlich begleitet und vom Bundesbauministerium gefördert werden würde. Es sollte demonstrieren, was in der Stadtplanung nach neusten Erkenntnissen der Experten umsetzbar sei. 2.500 Wohneinheiten würden da nicht ausreichen. Eine hohe Verdichtung durch größere Bauten, die Schaffung von attraktiven Kommunikations- und Aktivitätszonen, Sonderwohnformen wie spezielle Wohnungen für Ältere und Alleinerziehende, die Bereitstellung von Freizeitmöglichkeiten und Parkflächen unter den Gebäuden.

Altes Foto vom Bau der Hochhäuser in Osterholz-Tenever.
Rund 2.500 Wohnungen entstehen auf ehemals landwirtschaftlich genutzten Flächen. Bild: Hamburgisches Architekturarchiv

Die Pläne wurden überarbeitet, aus einer gemischten Bebauung mit mehrgeschossigen Wohngebäuden und Bungalows wurden nun treppenartige Hochhausriegel mit bis zu 18 Etagen. 4.500 Wohnungen sollte das Gebiet letztendlich umfassen. In viereinhalb Metern Höhe entstand eine Fußgängerebene, über die die Bewohner von ihren Wohnhäusern die Freizeiteinrichtungen und Geschäfte erreichen konnten. Diese Ebene sollte die Fußgänger vom Autoverkehr entkoppeln und die kommunikative Verbindung zwischen den Einwohnern fördern. Eine Anbindung an die Straßenbahn war nicht vorgesehen, da man davon ausging, dass die Bewohner sie in diesem autofreundlichen Stadtteil nicht benötigen würden. Oberhalb der Parkdecks entstanden begrünte Innenhöfe mit Spielplätzen und Sportmöglichkeiten.

"Klein-Manhattan" auf der Wiese

Alte Ansicht eines riesigen weißen Wohnblocks in Osterholz-Tenever.
Hochhaustreppen zwischen grünen Wiesen – die modernen Bauten wirken für das heutige Auge wenig einladend. Bild: Hamburgisches Architekturarchiv

Junge, aufstrebende, mittelständische Familien sollten hier in einer freizügigen, dynamischen und weltoffenen Gesellschaft zusammenkommen, so der Plan. Durch die Verdichtung der Kommunikations- und Freizeitmöglichkeiten sollte das urbane Leben erblühen. Die glatten Betonbauwerke wirkten dem Zeitgeist entsprechend offen, funktionell und zukunftsweisend.

Im Jahr 1972 zogen die ersten Familien in die neuen Wohnungen, aber schon als der erste Abschnitt 1973 fertiggestellt war, machte sich Ablehnung gegen die entstandenen Gebirge aus Beton breit. "Klein-Manhattan" wurde die Siedlung spöttisch genannt. Bausenator Hans Stefan Seifriz ordnete einen Baustopp an, um die Pläne zu überdenken. Bremen hatte schon 1969 mit etwa 607.000 Einwohnern seinen bisherigen Höchststand erreicht und die Zahlen waren rückläufig. Die Frage war nicht mehr, ob genug Wohnungen gebaut werden können, sondern ob man am tatsächlichen Bedarf vorbeiplanen würde.

Die Nachfrage nach den Wohnungen in Osterholz-Tenever verlief schleppend. Erstmals mussten Mietwohnungen im sozialen Wohnungsbau beworben werden. Mit der Ölkrise stiegen Bau- und Infrastrukturkosten und die entstandenen Mieten waren für viele nicht bezahlbar. Dazu kamen 35 DM Miete für einen Garagenplatz, ob man nun ein Auto hatte oder nicht. Die Bewohner beschwerten sich über die schlechte ÖPNV-Anbindung.

Ende des Demonstrativbauvorhabens

Blick in ein Wohnzimmer der 1970er-Jahre.
So war ein Wohnzimmer damals in Tenver eingerichtet. Bild: Hamburgisches Architekturarchiv

Nach einem Jahr fand der vorläufige Baustopp seinen Abschluss mit dem Ende des ambitionierten Projekts. Mehr als die bis dahin fertiggestellten 2.500 Wohnungen wurden nicht gebaut. Es wurde aber noch versucht, das Quartier aufzuwerten: So entstanden ein Hallenbad, eine Begegnungsstätte für Ältere, ein Jugend-Freizeitheim, ein Ärztehaus und ein Einkaufszentrum, das nun am Rand erbaut, einmal Mittelpunkt von Tenever werden sollte. Eine moderne Ausstattung, mit der keine andere Großsiedlung in Bremen mithalten konnte.

Steigende Mieten machten den Wohnraum für junge Familien unattraktiv, der Leerstand führte zur vermehrten Vergabe von Wohnungen an Sozialhilfeempfänger. Die gewünschte soziale Durchmischung kam nicht zustande, dafür stieg die Kriminalitätsrate. Statt Kommunikationsebenen, die die Bewohner zusammenführen sollten, entwickelte sich eine Anonymität in den Hochhäusern, die zu Sachbeschädigungen und Ansammlungen von Müll in den Häusern und Parkebenen führte. Die Gebäude verfielen im Laufe der Jahre. Spekulanten, denen die Häuser teilweise gehörten, kümmerten sich nicht um den Erhalt der Problem-Immobilien. Vom zukunftsweisenden Projekt entwickelte sich Osterholz-Tenever zu einem Beispiel für das negative Image von Sozialwohnungen.

Osterholz-Tenever war ein Paradebeispiel für eine ambitionierte, aber letztlich doch verfehlte Wohnungsbaupolitik.

Bremens Umweltsenatorin Maike Schaefer während eines Interviews.
Maike Schaefer, Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau

Vom Brennpunkt zum lebenswerten Ort

Als Bewohner eines gegenüber gelegenen Hochhauses im Stadtteil Osterholz-Tenever in Bremen, beobachtet Serma Beier (l) zusammen mit ihrer Tochter Valencina  die Abrissarbeiten des riesigen "Kessel-Blocks" in der Neuwieder Straße.
Die leerstehenden und heruntergekommenen Gebäude müssen weichen. Eine Sanierung wäre teurer als ein Neubau gewesen. Bild: dpa | Ingo Wagner

Ein Senatsbeschluss für ein Stadtumbaukonzept war Anfang der 2000er-Jahre der Startschuss für die Sanierung des Ortsteils. Eine Projektgesellschaft kaufte die vernachlässigten Gebäude auf, knapp 650 Wohnungen wurden abgerissen. Angsträume wurden beseitigt, neue Blickachsen geschaffen. Die erhöhten Fußgängerwege verschwanden, einladende Eingangsbereiche mit Concierge-Logen wurden geschaffen. Die Gebäude wurden gedämmt, Wohnungen saniert, Treppenhäuser modernisiert. Aus Mitteln des Bundes, des Landes und dem federführenden Wohnungsunternehmen Gewoba wurden 75 Millionen Euro für die Sanierung aufgebracht.

Leerstand ist Vergangenheit

Familien aus über 80 Ländern haben hier inzwischen ihr Zuhause gefunden. Im Sommer 2011 konnte die Gewoba erstmals vermelden, dass es keinen Leerstand mehr in den Mietwohnungen gab, dafür Wartelisten für Interessierte. Seit 2012 verbindet die Straßenbahnlinie 1 Tenever und den Weserpark mit der Innenstadt.

Es entstehen auch wieder Neubauten auf den ehemaligen Flächen der abgetragenen Wohnblocks. Kleine Mehrfamilienhäuser und geförderte barrierefreie Wohnungen sind entstanden. Weitere Wohn- und Gewerbeflächen sind in der Planung. So wurde das einstige Demonstrativbauvorhaben doch noch zu einem Vorzeigeobjekt für den städtebaulichen Wandel. Knapp 50 Jahre nach dem Einzug der ersten Mieter gilt die Sanierung Osterholz-Tenevers offiziell als abgeschlossen.

Neubauten vor den alten Hochhäusern in Osterholz-Tenever.
Die Neubauten in Tenever entstanden auf den freigewordenen Flächen. Allerdings diesmal viel zurückhaltender. Bild: Gewoba

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  • Martin von Minden
    Martin von Minden Autor

Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Der Nachmittag, 29. Juni 2022, 14:10 Uhr