"Diese Menschen brauchen eine Stimme": Hier werden Bremer zu Forschern

Zwei Teilnehmer diskutieren die Übung.
Mehrere Bremer und Bremerinnen wollen zusammen mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen den gesellschaftlichen Zusammenhalt Auntersuchen. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Daran wird auch in Bremen geforscht. Das Besondere: Wissenschaftler und "normale" Bremer arbeiten zusammen. Hier erzählen sie, was sie daran reizt.

Es ist ein Dromedar. Die deutsche Gesellschaft ist kein Kamel, sondern ein Dromedar, so die These auf der Präsentationsfolie. Jemand im Publikum schmunzelt, jemand nickt. Eine junge Frau auf dem Podium deutet auf die leuchtende Leinwand, die ein durchgekreuztes Trampeltier neben einer Herde Dromedare zeigt. Das Erstere steht für eine stark polarisierte Gesellschaft, die Letzteren für eine harmonische.

Uni-Mitarbeiterin Sophia Segler erklärt einige Begriffe vor der Leinwand.
Uni-Mitarbeiterin Sophia Segler erklärt einige Begriffe vor den Zuhörern. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Die Szene erinnert an eine akademische Vorlesung, säßen die Menschen auf Holzbänken hinter festen Tischplatten und nicht auf grünen Polsterstühlen bei Kuchen und Apfelschorle. Dies ist kein Hörsaal, sondern ein Café in der Bremer Neustadt und die Teilnehmenden keine Studierenden, sondern ganz normale Bürger und Bürgerinnen.

Normale Bürger und Bürgerinnen, die sich jedoch vorgenommen haben, die Gesellschaft und deren Zusammenhalt zu untersuchen. Citizen scientists, Bürgerforschende, nennt man sie im angelsächsischen Raum. "Was verstehen wir unter gesellschaftlichem Zusammenhalt?", fragt die nächste Folie. Die Teilnehmer, Männer und Frauen, Jüngere und Rentner, aus Bremen, aus Syrien, Ägypten und gar Japan, blicken konzentriert. Einige tauschen sich leise aus, jemand beißt in einen Keks, jemand trinkt noch einen Schluck Kaffee.

Teilnehmerin: Wie kann Wissenschaft jede und jeden erreichen?

Noch haben viele Teilnehmer einen langen Weg vor sich, doch ihre Motivationen sind heute schon klar. Für die gebürtige Japanerin Miho Sakai, die in ihrem Heimatland Sozialwissenschaften studiert hat und heute als Briefzustellerin in Bremen arbeitet, ist ein Fokus auf Menschen aus einfachen Verhältnissen wichtig. Menschen, die teilweise die deutsche Sprache nicht beherrschen, für die eine Zeitung keine Informationsquelle, sondern eine Barriere darstellt.

Ich möchte diesen Menschen eine Stimme geben. Sie brauchen eine Stimme.

Miho Sakai nimmt am Ginger-Projekt teil.
Miho Sakai, Projektteilnehmerin

Mitbestimmung fördern durch bessere Kommunikation, vor allem in der Wissenschaft – doch wie? Diese Frage beschäftige sie schon seit Jahren, sagt Sakai. Bei diesem Projekt könnte sie jetzt vielleicht eine Antwort finden. Dabei ist sie nicht die Einzige, die so empfindet: Als bei einer Übung die Workshop-Leiterin fragt, ob die Wissenschaft gut kommunizieren könne, hebt fast jeder Teilnehmer einen orangenen Zettel in die Luft – ein Symbol für starken Widerspruch.

Gesamtergebnisse erst in zwei Jahren

Noch stehen die meisten ganz am Anfang. Gerade werden die wichtigsten Begriffe erörtert, erst im Januar sollen wissenschaftliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Universität Bremen, die das Projekt "Ginger" leitet, den citizen scientists den Aufbau einer wissenschaftlichen Umfrage erläutern. Sie werden erklären, wie eine Forschungsfrage aussehen kann, wie eine wissenschaftliche Befragung funktioniert, wie man die Ergebnisse seiner Arbeit vorstellt, so gut es geht. Das Ziel ist, einen Beitrag zur akademischen Erforschung von gesellschaftlichem Zusammenhalt zu leisten.

Teilnehmer heben einen orangenfarbenen Zettel in die Luft.
"Ginger"-Teilnehmer haben die Möglichkeit, an Workshops teilzunehmen. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Denn Bürgerwissenschaft bedeutet im Grunde: Laien beteiligen sich an Forschungsprojekten, und das im unterschiedlichen Ausmaß. Natürlich hat das Ganze auch Grenzen: An einem Projekt teilzunehmen ersetzt nicht die Jahre Studium, die Forschende hinter sich haben. "Dies ist keine Ausbildung zum Beruf des Wissenschaftlers", betont die Uni-Mitarbeiterin hinter dem Rednerpult. Alle im Raum nicken.

Das Projekt ist vor anderthalb Jahren gestartet. Gerade würden die Ergebnisse der bisherigen Laufzeit ausgewertet, so Projektleiterin Julia Gantenberg. Erste Veröffentlichungen könnte es schon im Frühjahr 2023 geben, die Gesamtergebnisse jedoch erst in etwa zwei Jahren.

Teilnehmerin: "Untersuchen, wie sich die Gesellschaft verändert"

Zwei männliche Teilnehmer unterhalten sich.
Die Teilnehmer wollen unterschiedlichen Forschungsfragen nachgehen. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Links von der Bühne sitzen zwei Frauen, sie unterhalten sich kurz mit zwei arabischstämmigen Männern am Tisch nebenan, legen dann die Übungsbilder, die sie gerade bekommen haben, auf den Palettentisch vor sich. Darauf sind bunte Kreisdiagramme zu sehen. Die rothaarige Dame in Fleecejacke macht sich Notizen. Ihre blonde Kommilitonin, Gabriele Bredo, sagt auf Nachfrage, am meisten interessiere sie sich für die Art, wie die Gesellschaft sich gerade wandelt.

Man hört so viel in den Medien, man hört so viel in der Nachbarschaft, aber ist es wirklich so? Zur Achtsamkeit, zum Beispiel: Ist man wirklich nicht mehr so achtsam? Wie geht man miteinander um? Wie hat sich der Umgang in den letzten Jahren verändert?

Gabriele Bredo nimmt am Ginger-Projekt teil.
Gabriele Bredo, Sozialarbeiterin
Teilnehmer am Ginger-Projekt sitzen im Café.
Die Teilnehmer am Ginger-Projekt sollen den gesellschaftlichen Zusammenhalt untersuchen. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Die 57-jährige Sozialarbeiterin wünscht sich, dass die Forschungsfragen Themen entsprechen, die die Menschen wirklich bewegen. Dass sie von der Gesellschaft stammen, und nicht aus der Wissenschaft. Dass die Forschungsergebnisse für alle, auch für Laien, nachvollziehbar sind. "Gut gesagt", pflichtet ihr die andere Frau bei.

Teilnehmer: Hoffnung, dass die Projekte etwas bewirken

Für den 68-jährigen Rentner Jens Werner sind jedoch nicht nur die Studienergebnisse das Wichtigste, sondern vielmehr die Wirkungen auf die Forschungsteilnehmer, die "Impulse", die dadurch entstehen können.

Die Erwartung ist eigentlich schon, dass wir durch diese einzelnen Vorhaben vielleicht etwas in Bewegung bringen können.

Jens Werner nimmt am Ginger-Projekt teil.
Jens Werner, Projektteilnehmer

Dass die Wissenschaft aus den Universitätsgebäuden rauskommt, rein in die Stadt, in die Viertel, das sei was Besonderes, sagt der ehemalige Kunstprojektleiter mit Karohemd und geränderter Brille.

Teilnehmer halten ein Bild von einer Menschenmenge in der Hand.
Die Teilnehmer müssen sich mit den Grundlagen der Sozialforschung vertraut machen. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Ob all diese Erwartungen erfüllt werden, wird sich erst in den nächsten Monaten klären. Momentan gilt noch, sich für die Forschung zu rüsten. Mit Definitionen, Methoden, Zahlen, vielleicht auch mit Bildern von Gesellschaften, die wie Kamele aussehen, oder im Gegenteil eine breite moderate Basis haben – so wie den Rücken des einhöckrigen Dromedars.

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Autorin

  • Serena Bilanceri
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