Interview

Bremer Pastor aus der Ukraine: "Kirche muss Dinge beim Namen nennen"

Der Krieg, besonders der Tod einer jungen Frau und ihres Babys prägten das orthodoxe Osterfest in der Ukraine. Pastor Andreas Hamburg über Hass und die Rolle der Kirche im Krieg.

Der Bremer Pastor Andreas Hamburg wurde in der Ukraine geboren, in der Stadt Kremenchug. Seit vier Jahren leitet er eine Gemeinde der evangelischen Kirche in Bremen. Davor arbeitete Andreas Hamburg in den Diözesen von Charkiw und Odessa. Das Dorf nahe Charkiw, in dem mit seiner Familie lebte, ist heute komplett zerstört. Kein Stein steht mehr auf dem anderen in den Straßen, in denen seine Kinder früher spielten. Unsere ukrainische Kollegin Anna Chaika hat mit dem 49-Jährigen gesprochen, über persönliche Erfahrungen und Gefühle – und über die Rolle der Kirche in Kriegszeiten.

Andreas Hamburger, Priester aus Bremen.
Andreas Hamburg, als er in der Kirche in Odessa arbeitete. Bild: Andreas Hamburger

Am vergangenen Sonntag, dem 24. April, haben viele Ukrainerinnen und Ukrainer die Auferstehung Jesus' gefeiert, das orthodoxe Osterfest. Genau zwei Monate nach Beginn des Kriegs. Der Führer der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, segnete die russische Armee und den Krieg. Wie erklärt – oder rechtfertigt – die Kirche diesen Krieg?

Einen Angriffskrieg kann man meiner Meinung nach gar nicht rechtfertigen. Wenn eine Kirche das tut, dann ist das eine Sünde. Was Patriarch Kirill macht, ist nicht durch die Bibel gedeckt. Das wird eher von anderen Kräften geleitet, antibiblischen Kräften. Er und sein Gefolge sowie das politische Gefolge von Russlands Präsident Wladimir Putin werden von Kräften des Teufels geleitet, sie leben jenseits der Realität.

Sprechen wir über den Verteidigungskrieg, dann ist das eine vollkommen andere Frage. Als Pazifist endet mein Pazifismus, wenn jemand meine Frau vergewaltigt oder meine Kinder tötet. Dann bin ich kein Pazifist mehr. Ich kann keiner mehr sein, weil ich meine Familie beschützen muss, mein Volk. Ich glaube nicht, dass Jesus selbst von irgendwem in so einer Lage Unterwürfigkeit oder Demut erwarten würde. So verstehe ich die Heiligen Schriften nicht.

Ich denke, Jesus erwartet vom russischen Volk, dass es aufsteht und sagt: "Was wir gerade tun, ist eine einzige Katastrophe. Wir töten Menschen, die unsere Nachbarn sind, unsere Brüder und Schwestern." Aber die Russen leben in einem despotischen Staat. Diese Leute leben heute noch in der UdSSR. Es war nicht Jesus, der in Russland auferstanden ist, es war die Sowjetunion.


Die Postulate der Kirche im alltäglichen Leben sind Frieden und Demut. Welche Aufgabe hat die Kirche während eines Krieges?

Eines der Gebote lautet: "Weine mit denen, die weinen". Die Kirche muss mitfühlen und hilfreich sein, geistig genauso wie humanitär. Die Kirche muss die Dinge beim Namen nennen. Und wenn die Kirche das nicht tut und versucht, Verständnis für einen Angriffskrieg zu zeigen, dann scheint es mir so, als würde die Kirche ihren Kern verlieren, ihre eigentliche Gestalt.

Mein Nachfolger, der Bischof der lutherischen Kirche in der Ukraine, hat seine Familie nach Polen geschickt. Er selbst ist in Charkiw geblieben: Er fährt durch die Ukraine, hält Messen und verteilt Hilfspakete. Und es gibt viele Priester, die das tun. Es bleiben sogar diejenigen, die hätten gehen können, und sie machen ihren Job. Wenn ich nicht sechs Kinder hätte und die Aufgabe, Hilfsgüter in die Ukraine zu schicken, vielleicht würde ich dann auch an die Front gehen. Andererseits: Was hätte das für einen Sinn, wenn ich ein Soldat wäre. Wenn ich ein Kaplan wäre und mit den ukrainischen Soldaten arbeiten würde…

Soldaten wissen, dass sie morgen vielleicht nicht wiederkommen. Und sie tun ihre Pflicht gegenüber der Familie, den Menschen. Ich möchte, dass die ukrainischen Soldaten wissen, dass sie das Richtige tun, wenn sie auf das Schlachtfeld gehen, um ihr Land zu verteidigen. Und stirbt ein Soldat, hat er vielleicht andere Leben gerettet. Und das, was nach ihm geschieht, kann die Jahre füllen.

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Sie waren lange Pastor in der St. Pauls Kirche in Odessa. Am vergangenen Samstag, einen Tag vor Ostern, hat das russische Militär Odessa mit Raketen beschossen. Acht Menschen wurden getötet, darunter eine junge Frau und ihre drei Monate alte Tochter. Was haben Sie gefühlt, als Sie das hörten?

Hass. Für jeden, der das getan hat. Und eine überwältigende Traurigkeit für die junge Frau und ihr Kind. Für mich ist in diesem Augenblick der Glaube an das ewige Leben meine einzige Hoffnung. Ich möchte, dass dieses Kind und seine Mutter dort auferstehen, wo es keine Bomben gibt, keine Angst, keinen Schmerz.

Darf ein Gläubiger Hass fühlen?

Es ist unmöglich, sich alles zu verbieten. Ein Mensch kann sich nicht verbieten, zu fühlen. Diese verbotenen Gefühle würden sonst eines Tages Macht über mich haben. Wenn ich den Hass in mir aber fühle, und mir dessen bewusst bin, dann kann ich ihn lenken und daraus irgendwann etwas anderes machen. Ich versuche, mich mit diesem Gefühl Gott zu öffnen.

Jetzt sind viele Ukrainerinnen und Ukrainer in Bremen. Und jeder hat seine eigene Geschichte mitgebracht, seinen eigenen Schmerz. Nach all dem, was Sie schon gehört haben, was hat Sie besonders berührt?

In den ersten Kriegstagen kam eine Familie aus Schytomyr hierher. Die Eltern sind blind. Als der blinde Vater und sein Sohn Saxophon in der Kirche spielten, war es so professionell und wunderschön. Meine Tränen flossen in Strömen. Die Tragödie dieser Menschen in dieser Situation zu verstehen, hat mich sehr berührt. Sie haben ihre Heimat verlassen, wissend, dass Menschen, die sie lieben, jeden Moment getötet werden können. Sie werden so schnell nicht zurückkehren können. Und wenn sie zurückkehren, wird es ein völlig anderes Land sein, nicht mehr das, was sie verließen. Es gibt kein Zurück. Es wird Generationen dauern, um das zu überwinden.

Andreas Hamburger
Andreas Hamburg 2.v.l. mit anderen Menschen, die Hilfsgüter in die Ukraine bringen. Bild: Andreas Hamburger

Die Bremische Evangelische Kirche koordiniert bei der Verteilung von Hilfsgütern und unterstützt ukrainische Geflüchtete in Bremen. Wie erleben die Bremer den Krieg?

Die Menschen in Bremen fühlen sehr mit und sie helfen, wo sie nur können. Von Schulkindern über Erwachsene bis hin zu Senioren. Menschen aus der lokalen Wirtschaft haben sich bei mir gemeldet und ihre Hilfe angeboten. Diese deutschen Unternehmer leiden auch unter dem Krieg, weil sie Geschäfte in Moskau und St. Petersburg machen. Aber sie haben auch Werte und Moral, sie haben selbst Kinder und sie verstehen die Lage und wollen einfach helfen. Sie wollen langfristig helfen, auch dann, wenn die Ukrainer die Ukraine wieder aufbauen. Und die Ukrainer werden die Ukraine wieder aufbauen. Weil das Licht die Dunkelheit immer besiegen wird.

Autorin

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    Anna Chaika Autorin

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 22. April 2022, 8:10 Uhr