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Tausende Überstunden: Ist das die Zukunft für Bremer Arbeitnehmer?

Eine Frau resigniert vor Stress am Arbeitsplatz (Symbolbild)

Bremer Krankenhausgesellschaft hat 270.000 Überstunden angehäuft

Bild: Imago | Shotshop

Überstunden sind in Bremen fast normal, nicht nur bei der Geno. Das zeigen Zahlen der Arbeitnehmerkammer. Dennoch sagen Forscher: Die große Zeit der Überstunden ist vorbei.

Die Meldungen zu Überstunden im Land Bremen reißen nicht ab. Stand zu Beginn des Jahres die Polizei Bremen mit knapp 160.000 Überstunden im Jahr 2021 in den Schlagzeilen, so erklärten im Sommer die Feuerwehren in Bremen und Bremerhaven, dass sie zu wenig Personal hätten und viele Beschäftigte daher notgedrungen Überstunden anhäuften.

Jetzt ist es der kommunale Klinikverbund Gesundheit Nord (Geno), der mit alarmierenden Zahlen zu Überstunden der Belegschaft von sich reden macht. So haben sich bei der Geno laut Sprecherin Karen Matiszick rund 270.000 Überstunden angehäuft, die noch nicht bezahlt oder abgefeiert worden sind. Das entspricht 33 Stunden pro Arbeitskraft und Jahr. Betroffen ist nicht nur das medizinische, sondern auch das Verwaltungspersonal. Zwar möchte der Klinikverbund das Geld an die Betroffenen noch auszahlen. Dies könne jedoch nicht auf einen Schlag geschehen, so die Sprecherin. Zum Hintergrund: Der Geldwert der Überstunden entspricht laut Geno etwa 13 Millionen Euro.

buten un binnen hat mit der Geno, der Arbeitnehmerkammer und mit einem Forscher des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung darüber gesprochen, welche Rolle Überstunden in unserer Gesellschaft spielen, welche Rolle ihnen künftig zufallen könnte und welche Rechte Betroffene haben.

In welchen Branchen machen Beschäftigte im Land Bremen am häufigsten Überstunden?

Das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (Infas) hat 2021 im Auftrag der Arbeitnehmerkammer Bremen 3.055 Beschäftigte aus Bremen und Bremerhaven telefonisch zu Mehrarbeit befragt. Dabei stellte sich heraus, dass Überstunden in fast allen Branchen weit verbreitet sind. So gab über ein Drittel aller Beschäftigen an, oft oder immer Überstunden machen zu müssen.

Noch höher fiel dieser Wert insbesondere bei den Beschäftigten in wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen aus sowie bei jenen des Verkehrswesens und des Gesundheitswesens. Hier war das Krankenhauspersonal 2021 am stärksten betroffen. Fast die Hälfte der in Krankenhäusern Beschäftigten (49,3 Prozent) gab an, oft oder immer Überstunden machen zu müssen.

Überstunden bei Beschäftigten im Land Bremen

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Was sind die häufigsten Gründe für Überstunden?

Im aktuellen Fall des kommunalen Bremer Klinikverbunds Geno nennt Rolf Schlüter, Sprecher der Geno, die notwendige Flexibilität der Kliniken als eine Hauptursache für die Überstunden des Krankenhauspersonals. "Allein im Klinikum-Mitte hatten wir durch das Glatteis am Montagmorgen 40 Aufnahmen mitten zum Schichtwechsel. Durch solche Ereignisse verzögern sich Übergaben. Überstunden sind die Folge", erklärt Schlüter beispielhaft. Weil es gleichzeitig generell an Personal mangele, sei es schwierig für die Kliniken, die so entstehenden Überstunden abzubauen. Zumal, wenn auch noch viele Krankheitsausfälle hinzu kämen, wie zuletzt etwa aufgrund eines Corona-Ausbruchs im Klinikum Bremen-Nord.

Grundsätzlich seien schwankende Arbeitsauslastungen die häufigsten Gründe für Überstunden, sagt Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs "Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen" am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Andere häufige Gründe seien Krankheitswellen, deretwegen gesunde Kollegen einspringen müssten, wie eben auch bei der Geno. Hinzu kämen unbezahlte Überstunden, die häufig von Führungskräften geleistet würden, da diese oftmals in Vertrauenszeit arbeiteten.

"Die machen dann die Arbeit oft zu ihrer eigenen Sache oder wollen beispielsweise auch deutlich machen, dass sie noch Karriere machen möchten", beschreibt Weber eine mögliche Motivation hinter unbezahlt geleisteten Überstunden durch Führungskräfte in Vertrauenszeit. Mitunter stecke aber auch dahinter, dass der Arbeitgeber zu wenig Personal vorhalte und daher unverhältnismäßig viel Arbeit an den vorhandenen Führungskräften hängen bleibe. In den entsprechenden Arbeitsverträgen von Führungskräften ständen oftmals Zusätze, die unbezahlte Überstunden vorsähen. Tatsächlich hat auch die Arbeitnehmerkammer Bremen bei ihrer Befragung im Jahr 2021 festgestellt: "Auffällig ist, dass Beschäftigte, die Vertrauensarbeitszeit haben, mit 32,1 Prozent besonders häufig angeben, mehr als drei Überstunden pro Woche zu machen."

Allzu viele Überstunden – das lässt bald kaum noch einer mit sich machen. Es ist eher davon auszugehen, dass die Beschäftigten in Deutschland in den kommenden Jahren immer weitreichendere Forderungen stellen. Nach einer Vier-Tage-Woche oder auch nach mehr Arbeitszeit-Flexibilität.

Enzo Weber, IAB

Viele Branchen klagen über Personalmangel. Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich die Lage noch verschärfen wird, weil mehr Beschäftigte in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen werden als nachkommen. Bedeutet das, dass künftig immer weniger Menschen immer mehr schaffen – und immer mehr Überstunden leisten müssen?

Im Gegenteil, sagt Arbeitsmarktforscher Enzo Weber. Zwar sei richtig, dass der Bedarf an Arbeitskraft auch in den kommenden Jahren sehr groß sein werde. Doch gerade deshalb sieht er die Beschäftigten in einer starken Position gegenüber Arbeitgebern: "Allzu viele Überstunden – das lässt bald kaum noch einer mit sich machen", so Weber. Es sei eher davon auszugehen, dass die Beschäftigten in Deutschland in den kommenden Jahren immer weitreichendere Forderungen stellen würden: etwa nach einer Vier-Tage-Woche oder auch nach mehr Arbeitszeit-Flexibilität.

Weber verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass, allen aktuellen Eindrücken zum Trotz, die Zahl der Überstunden pro Beschäftigtem in Deutschland bereis seit langem rückläufig sei. Tatsächlich weist eine entsprechende Erhebung des IAB für 1991 noch 46,3 bezahlte Überstunden pro Jahr und Beschäftigtem in der Bundesrepublik Deutschland aus, während es 2021 nur noch 14,5 bezahlte Überstunden pro Jahr und Beschäftigtem gewesen sind. Auch die Zahl der bezahlten Überstunden ist der Statistik zufolge seit 2011 ununterbrochen rückläufig. Das IAB weist darauf hin, dass diese Trends in allen deutschen Bundesländern zu beobachten seien. Regionale Unterschiede gebe es kaum.

Entwicklung der Überstunden in Deutschland

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Welche Entwicklungen im Umgang mit Überstunden beobachten Forscher über die nackten Zahlen hinaus?

Wie Enzo Weber vom IAB sagt, würden immer mehr Überstunden nicht in Geld ausgezahlt, sondern in Freizeit. Anders gesagt: Beschäftigte, die Überstunden leisten, nehmen sich hierfür, wenn es möglich ist, Urlaubstage.

In diesem Zusammenhang hätten sich Arbeitszeitkonten etabliert. "Man macht also im engen Sinn gar keine Überstunden. Die Arbeitsstunden werden einfach nur anders verteilt“, beschreibt Weber den Hintergedanken. Diese Vorgehensweise habe sich bewährt. "Deswegen wird das auch immer mehr", so der Wissenschaftler.

Sind Arbeitgeber überhaupt dazu verpflichtet, Überstunden, ob mit Geld oder Freizeit, zu entlohnen?

Ja. "Überstunden sind auszugleichen", stellt Weber klar. Mehr Zeit für denselben Lohn arbeiten zu lassen als vertraglich vereinbart, sei nicht rechtens.

Die Gewerkschaft Verdi teilt dazu mit: "Wurde zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein Monatslohn und gleichzeitig die Höhe der Arbeitszeit vereinbart, folgt daraus, dass sich die Monatsvergütung auf die vereinbarte Arbeitszeit bezieht. Damit verbindet sich ein Anspruch auf Überstundenvergütung in Höhe des üblichen Stundenlohns. Wenn es einzelvertragliche, tarifliche oder betriebliche Zusatzvereinbarungen gibt, besteht eventuell ein höherer Anspruch."

Komplizierter liegen die Dinge offenbar bei Führungskräften, die in Vertrauenszeit arbeiten. So sagt Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom IAB, dass strittig sei, inwiefern vertragliche Klauseln, die Führungskräften Überstunden ohne Ausgleich abverlangen, rechtlich haltbar seien. "Klar ist aber, dass unbezahlte Überstunden bei Führungskräften gängige Praxis sind", so Weber.

Was spricht dagegen, dass einige Unternehmen Führungskräften, die doch schließlich Karriere machen wollen, unbezahlte Überstunden abverlangen?

Eine derartige Arbeitskultur kann beispielsweise zur Folge haben, dass Frauen, die Kinder bekommen, beruflich ins Hintertreffen geraten, weil sie in dieser Zeit weniger arbeiten können, sagt Weber. Eine weitere Folge einer derartigen Arbeitskultur wäre, dass Männer, die mehr Zeit ihren Familien widmen möchten, ebenfalls Probleme bekämen, weil man ihre Einstellung zur Arbeit als negativ bewerten könnte.
"Das wiederum setzt dann natürlich die Frauen noch mehr unter Druck: Wenn der Mann zuhause nicht mithilft, dann muss sie ja erst recht zurückstecken", beschreibt Weber die drohende Kettenreaktion und resümiert: "Das sind ungesunde Muster." Allzu viele Überstunden täten niemandem gut, auch Führungskräften nicht.

So dramatisch ist der Personalmangel in Bremer Kliniken

Bild: Radio Bremen

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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 30. Dezember 2022, 19.30 Uhr