Interview

Bremer Türkei-Experte: "Erdogan wird kein milderer Partner"

Ein Mann steht mit einem Mikrofon in der Hand. Er hält die andere Hand nach oben wie zum Gruße. Im Hintergrund Flaggen der Türkei.
In Deutschland lebende Türken haben in der Mehrheit Erdogan gewählt. Bild: dpa | Valery Sharifulin

In der Türkei hat Erdogan die Stichwahl um das Präsidentenamt gewonnen. Auch in Bremen wurde mit Autokorsos gefeiert. Was die Wahl für Deutschland bedeutet.

Seine Anhänger feierten in der Nacht zu Montag auch in Bremen: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bleibt weitere fünf Jahre im Amt. Der 69-Jährige entschied am Sonntag die erste Stichwahl in der Geschichte der Türkei gegen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu für sich. Erdogan erhielt rund 52 Prozent der Stimmen, Kilicdaroglu knapp 48 Prozent, wie die Wahlbehörde nach Auszählung von mehr als 99 Prozent der Stimmen mitteilte. In Deutschland stimmte nach vorläufigem Ergebnis erneut eine Mehrheit der Wähler für Erdogan.

Dem türkischen Präsidenten kommt seit einer Verfassungsänderung vor fünf Jahren eine große Machtfülle zu. Die parlamentarische Demokratie wurde durch ein Präsidialsystem ersetzt und so baute Amtsinhaber Erdogan seine Macht stetig aus. Der Politikwissenschaftler Roy Karadag von der Universität Bremen erklärt, wie Erdogan die 100-Jahr-Feier der türkischen Republik für sich nutzen wird, und wie er das Verhältnis zu Deutschland in Zukunft sieht.

Herr Karadag, es war eng für Erdogan dieses Mal – und es gibt unterschiedliche Vermutungen, wie er sich in der neuen Amtszeit positionieren wird: autoritärer oder milder – was meinen Sie?

Wie bislang, es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er irgendwie milder werden wird. Er wird einfach sein diplomatisches Schwergewicht ausspielen, um bei der Frage des schwedischen Nato-Beitritts am meisten für die Türkei herauszuschlagen.

Was wäre das?

Zugang zu Kampffliegern und anderen Waffensystemen der USA zum Beispiel. Darüber sieht man sich dann in Verhandlungen. Bei der Frage der Fluchtregulierung schaut man auch, dass da mehr an finanziellen Ressourcen der EU in die Türkei gelenkt wird, um diese Partnerschaft aufrechtzuerhalten. Das wird jetzt kein milderer und beständigerer Partner für die Europäische Union und auch nicht für Deutschland werden.

Sie sprechen das Thema der Geflüchteten an. Beide Kandidaten um das Präsidentenamt hatten damit Wahlkampf gemacht. Wie geht es weiter?

Da ist die Rolle der Türkei als Partner in der Fluchtregulierung, als Verhinderin von Fluchtbewegungen über die Türkei-Route nach Europa zentral, und daran wird sich auch nichts ändern. Die Europäische Union hofft, dass nicht noch mehr Afghanen, Iraner, Iraker, Syrer über die Türkei nach Europa kommen und dafür will die Türkei eben auch diplomatische Zugeständnisse, aber auch finanzielle Ressourcen haben, damit diese Partnerschaft stabil bleibt.

Welche Aufgabe muss der alte und neue Präsident aus Sicht der eigenen Bevölkerung am dringendsten angehen?

Für die Bevölkerung und auch für seine Anhängerschaft ist natürlich der Umgang mit der Wirtschaftskrise zentral. Denn da ist auch nicht wirklich irgendein Rezept da für die AKP, denn es ist ja AKP- und Erdogan-Politik gewesen, den langen Fokus auf Niedrigzinspolitik zu legen, was die Inflation auch strukturell angetrieben hat. Die AKP wird sicher weiter Investitionsprojekte starten und gucken, dass Renten und Löhne im Staatssektor angehoben werden, damit die eigene Anhängerschaft damit auch ein bisschen zufriedengestellt wird. Vor allem bei den Renten ist das relevant.

Im Prinzip ist das jetzt aber ein Durchwurschteln. Da werden die schlechten Wirtschaftsmeldungen nicht auf sich warten lassen und in den nächsten Monaten wieder dieselbe Ernüchterung und denselben Frust kreieren, den es Monate vor der Wahl auch gab.

Menschen, darunter Frauen mit Kopftuch, halten Flaggen der Türkei und heben die Arme voller Freude.
Viele Türken halten zu Erdogan, obwohl sie unter der Wirtschaftskrise im Land leiden. Bild: dpa | Arif Hudaverdi Yaman

Was meinen Sie, warum wird diese Wirtschaftspolitik so verfolgt? Es gibt ja auch aus Wissenschaftskreisen viel Kritik daran.

Es gibt eine einseitige Schwerpunktsetzung der AKP auf den Exportsektor. Und da ist so etwas wie die Abwertung der türkischen Währung Lira für diese Exportsektoren gar kein Problem, denn türkische Produkte werden im Ausland dann einfach wettbewerbsfähiger. Das ist die Wirtschaftserzählung der AKP, dass nur die starke Ausrichtung auf Exportsektoren das Land voranbringt und Investitionen bringt. Das kann stimmen, so lange es nicht diese makroökonomischen Ungleichgewichte wie schwere Inflation mit sich bringt, die eben gleichzeitig das Leben von so vielen teurer macht. Mal gucken, was sich die AKP einfallen lässt, um vor allem der Preissteigerung bei Lebensmitteln etwas entgegenzusetzen.

Dass der Staatspräsident sehr viel Macht auf sich vereint hat, ist eine häufige Kritik. Zudem wird in diesem Jahr die türkische Republik 100 Jahre alt. Wie historisch war diese Wahl vor dem Hintergrund?

Diese Wahl finalisiert politische Dynamiken der letzten Jahre. Es war vor 20 Jahren noch gar nicht vorgesehen, dass ein politischer Akteur im türkischen politischen System so viel Macht auf sich vereinen kann. Und dass das jetzt einem wie Erdogan gelingt ist natürlich auch für ihn die Krönung schlechthin. Für die AKP und die Ultranationalisten ist es ganz bedeutsam, dass man diese 100-Jahr-Feier im eigenen Sinne gestalten kann, dass man Geschichtspolitik betreibt, die einen selbst und die eigene ideologische Strömung gut und sinnvoll erscheinen lässt im Vergleich zu anderen ideologischen Strömungen in der türkischen Vergangenheit. Und dann sind 20 Jahre AKP in dem Sinne auch Erfüllung von 100 Jahren türkischer Geschichte, so wird man das inszenieren.

Können Sie das konkreter sagen, inwiefern Erfüllung?

Für die AKP und für die religiösen Konservativen in der Türkei war die Verwestlichung, die West-Politik und die West-Annäherung und West-Anbindung, die der Staatsgründer Kemal Atatürk und die frühen Kemalisten quasi vorgeschrieben haben, denen immer ein Dorn im Auge, dazu konservative Ideen und auch religiöse Identität aufzugeben, um als westlicher Staat zu gelten. Da gab es in der Geschichte immer wieder Gegenbewegungen aus der konservativ-religiösen Ecke. Die AKP hat diese Spannung zwischen Verwestlichung und religiöser Identität ein bisschen aufgehoben, indem sie zeigen kann und Politik betreiben kann in dem Sinne, dass man stolz, türkisch, muslimisch sein kann, und auch modern, aber nicht mehr so säkular, wie sich das Atatürk vorgestellt hat. Das war das Problem des Kemalismus und dieses Problem haben Erdogan und die AKP aufgehoben und damit sozusagen den Fortschrittsauftrag erfüllt, aber in abgewandelter Form.

Was glauben Sie wird sich Wesentliches in den Beziehungen zu Deutschland ändern?

Gar nichts, das wird einfach so bleiben. Da ist die Frage: Macht Deutschland weiter mit dieser Politik der stillen Ausweisung von kurdischen Aktivisten oder nicht? Das sieht die Türkei natürlich gerne, dass Deutschland PKK-Mitglieder oder andere kurdische Aktivisten immer mal wieder abschiebt in die Türkei (Die Kurdische Arbeiterpartei PKK ist in Deutschland verboten. Es gibt Bestrebungen seitens der Partei, als erlaubt anerkannt zu werden; Anm. d. Red.). Da ist die Frage, was denkt sich die deutsche Seite, was sie als Gegenleistung dafür bekommt für diese teilweise Kooperation.

Und sonst ist natürlich für die deutsche Seite relevant, wie man wieder ein kooperativeres Verhältnis zu DITIP und den Islamverbänden hinkriegt, die alle sehr konservativ sind. Der Dachverband DITIP ist von der türkischen Religionsbehörde Diyanet und damit auch von Erdogan gelenkt und gesteuert. Erdogan weiß, da wird er gebraucht, um die Islamverbände kooperativer auszurichten, weil man an denen einfach nicht vorbeikommt und da ist die Frage, was ist Leistung und was Gegenleistung in diesem Fall.

So gespalten sind die Türken in Bremen über die Wahl in der Heimat

Bild: Radio Bremen
  • Das denken Bremer über die Türkei-Wahl

    Noch ist es ein Kopf an Kopf Rennen zwischen Erdogan und der Opposition. Die Deutsch-Türken könnten bei der Stichwahl entscheidend sein.

Autorin

  • Patel Verena
    Verena Patel Redakteurin und Autorin

Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Nachrichten, 29. Mai 2023, 9 Uhr