Interview

Bremer Experte: "Kann in Türkei nicht mehr von freien Wahlen reden"

Das denken Bremer über die Türkei-Wahl

Bild: dpa | Mehmet Emin Menguarslan

Warum die türkische Wahlbehörde gescheitert ist und wie die Beziehungen zu Deutschland werden könnten, erklärt der Bremer Politikwissenschaftler Roy Karadag.

Nach den Parlamentswahlen in der Türkei zeichnet sich ab, dass die Regierungsallianz von Präsident Recep Tayyip Erdogan ihre Mehrheit verteidigen konnte. Wer allerdings der neue Präsident wird, ist noch unklar. Zwischen Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu (CHP) und Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan (AKP) wird es wohl zu einer Stichwahl um das Präsidentenamt kommen, weil keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreichen konnte.

Vorgesehen ist der 28. Mai 2023, in Deutschland könnten Wahlberechtigte laut der Deutschen Presseagentur vom 20. bis 24. Mai ihre Stimme abgeben. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt.

Herr Karadag, wagen Sie eine Prognose, wer die Stichwahl gewinnt?

Ich befürchte, dass Erdogan einen zweiten Wahlgang holen wird. Auch bei früheren Wahlen in der Türkei war die Dramaturgie oft so, dass die Zustimmungsrate für den Präsidenten im Vorhinein gesunken war, auch mal auf nur 30 Prozent. Dann wurde mit dem Wahlkampf wieder stark aufgeholt. Das liegt daran, dass es ganz viele Verflechtungen zwischen Staat und Politik gibt. Die AKP ist im Vorteil wegen ihrer Budgets, ihrer Infrastruktur, und weil viele Jobs und Karrieren in Gefahr geraten würden, wenn sie die Mehrheit verlöre. Das ist anderen Parteien gegenüber unfair und deshalb kann man in der Türkei nicht mehr von freien Wahlen reden.

Hinzu kommt der Einfluss von den im Prinzip gleichgeschalteten TV- und Zeitungsmedien. Erdogan hat die Zustimmung der Massen nicht deshalb, weil er gut ist, sondern weil er den Staatsapparat auf seiner Seite hat. Noch zusätzliche zwei Wochen Wahlkampf werden das meiner Meinung nach noch verschärfen.

In Deutschland waren 1,5 Millionen Menschen wahlberechtigt. Welche Bedeutung haben ihre Stimmen für das Ergebnis?

Die Mehrheit der Wähler in Deutschland stimmt für die AKP, weil es hier genügend konservative Familien gibt, die auf das Bild einer starken Türkei setzen. Hinzu kommt, dass viele Deutsch-Türken Nachrichten zur Türkei hauptsächlich über die TV-Medien konsumieren, und die TV-Landschaft ist sehr einheitlich.

Was hat Sie an der Wahl am meisten überrascht?

Am Ende hat es mich doch überrascht, dass der Block um Präsident Erdogan ungebrochen scheint. Im Laufe des Wahlabends hieß es, weil noch viele Millionen Stimmen nicht ausgezählt waren, und die AKP an einigen Orten Auszählungen verhindert haben soll, dass sich noch einiges ändert am Ergebnis, dass noch viele Stimmen der Opposition zugute kommen. Aber das war wohl doch nicht so klar, wie die Opposition meinte.

Am Wahlabend ging es hoch her, weil sowohl das Lager um Erdogan als auch das Lager um seinen Herausforderer Kilicdaroglu den Sieg für sich beanspruchten. Nun deutet sich eine Stichwahl zwischen beiden am 28. Mai an. Welchen Informationen kann man vertrauen?

Die Hauptverantwortung für die Verwirrung liegt beim Leiter der Wahlbehörde. Er hat es nicht geschafft, zu kommunizieren, wo bei der Wahl die Probleme lagen. Über die sozialen Medien haben Oppositionelle und Journalisten davon berichtet, dass es Störungen des Wahlablaufs gab, dass die Polizei in Wahllokale gegangen ist zum Beispiel. Unklar bleibt für viele, wann man das herausbekäme, wie viel Wahlmanipulation es tatsächlich gegeben hat. (Die Berichte der Wahlbeobachter werden noch erwartet, Anm. d. Red.) Das ist ein Scheitern der Wahlbehörde am Wahlabend. Die Behörde ist voreingenommen und politisch korrumpiert.

Um Störungen zu verhindern beziehungsweise zu bezeugen gab es viele Wahlbeobachter. Wie haben sie ihren Job gemacht?

Die Wahlbeobachter haben sich in den letzten Jahren sehr professionalisiert. Es ist aber noch unklar, wie lange sie brauchen werden, um Manipulationen offenzulegen. Bei weit über 90 Prozent ausgezählter Stimmen muss man jetzt aber annehmen, dass die Ergebnisse stimmen.

Im Parlament konnte offenbar die konservative Regierungsallianz von Präsident Erdogan wieder eine Mehrheit erlangen. Was bedeutet das für die Beziehungen zu Deutschland und zu Bremen?

Das schwierige Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei wird sich fortsetzen, es bleibt wenig Raum für irgendeine Annäherung.

Inwiefern schwierig?

Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre. Vor 15 Jahren sahen die Beziehungen zwischen beiden Ländern noch ganz anders aus. Es gab eine gewisse Vertrautheit im deutsch-türkischen Umgang wegen der gemeinsamen Diaspora-Geschichte, den Menschen mit türkischen Wurzeln, die hier leben. Die Türkei war ganz wichtig für Deutschland und Deutschland ganz wichtig für die Türkei. Mit den politischen Umbrüchen in der Türkei seit den Gezi-Protesten 2013 (regierungskritische Demonstrationen, die ihren Anfang mit dem Protest gegen ein Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park nahmen, und in der Folge mehrfach mit gewaltsamen Polizeieinsätzen beendet wurden, Anm. d. Red.) ist dieses Verhältnis stark abgekühlt. Danach hat Erdogan immer mehr Macht auf sich konzentriert. Wie einfach seine Partei, die AKP, danach noch in Deutschland Wahlkampf machen konnte, das hat viele verstört.

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Autorin

  • Patel Verena
    Verena Patel Redakteurin und Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 15. Mai 2023, 19:30 Uhr