Interview

Rassismus im Vormarsch? Migrationsforscherin stellt Rechtsruck fest

Eine Familie, vollbepackt mit Taschen und Koffern auf dem Weg durch einen Kontrollberreich.
Flüchtlinge werden in Deutschland längst nicht überall willkommen geheißen. Bild: Imago | epd

Kanzler Scholz und seine Ampel-Koalition wollen das Asylrecht verschärfen. Steckt dahinter auch ein Rechtsruck der deutschen Politik? Ja, sagt eine Migrationsforscherin.

Die Zuwanderung von Flüchtlingen sorgt in Deutschland derzeit für aufgeregte Debatten, nicht nur unter den Radio Bremen Meinungsmeldern. Die Bundesregierung möchte abgelehnte Asylbewerber schneller abschieben, den so genannten "Ausreisegewahrsam" von derzeit zehn auf 28 Tage verlängern. So sieht es ein Gesetzentwurf der Innenministerin Nancy Faeser (SPD) vor. Gleichzeitig fordern die Länder mehr Geld vom Bund für die Aufnahme von Flüchtlingen. Darüber wollen Bund und Länder am 6. November bei einem Treffen im Kanzleramt sprechen. buten un binnen hat mit der Migrationsforscherin Helen Schwenken über Hintergründe der Debatten rund um die Asylpolitik gesprochen.

Dunkelhaarige Frau lächelt in Kamera
Stellt einen Rechtsruck der deutschen Parteien fest: Helen Schwenken. Bild: Helen Schwenken

Frau Schwenken, wieso führen die Menschen in Deutschland die aktuelle Diskussion ums Asylrecht dermaßen hitzig?

Das liegt an dem Thema. In Zeiten von Mehrfachkrisen – Klima, Kriege – wächst das Bedürfnis der Menschen nach einfachen Antworten. Und die lassen sich bei einem Thema wie Migration vermeintlich leicht finden, ähnlich wie etwa bei dem Thema "Gender". Gemeinsam ist diesen Themen, dass hier alte Vorstellungen von Normalität in Frage gestellt werden. Beim Thema Gender betrifft das etwa die Arbeitsteilung und das Familienleben, bei der Migration betrifft das die Nation, die Souveränität und die inneren wie äußeren Grenzen.

Inwiefern fühlen Sie sich durch die aktuelle Diskussion an früheren Debatten rund um Zuwanderung erinnert, und was ist heute anders?

Ich persönlich fühle mich sehr stark an Diskussionen aus den 1990er Jahren erinnert. Auch damals gab es eine Diskussion um Asyl und um Einschränkung von Asyl. Es gab Anfang der neunziger Jahre sehr viele rassistische Übergriffe, Brandanschläge und ein sehr aufgeheiztes gesellschaftliches Klima.

Allerdings hat gegenüber den neunziger Jahren eine Verschiebung des Diskurses nach rechts, Richtung Rassismus stattgefunden. Damals haben sich die Menschen kaum getraut, rassistische Dinge zu sagen. Das war eines der Ergebnisse von Siegfried Jägers Studie "Brandsätze" aus dem Jahr 1992. Wer doch etwas Rassistisches sagte, der betonte die Ausnahme, das "Aber", oder legte die Worte anderen in den Mund. Wenn man sich heute Talkshows und die Reaktionen darauf ansieht, dann stellt man fest, dass die Kommunikation direkter geworden ist. Das geht einher mit einer deutlichen Bewegung der Parteien nach rechts.

CDU Vorsitzender Friedrich Merz im Portrait bei auf dem 45. Landesparteitag der CDU in NRW.
Hat sich nach Auffassung der Migrationsforscherin Helen Schwenken rassistisch über Flüchtlinge geäußert: CDU-Chef Friedrich Merz. Bild: Imago | Political-Moments

Fällt Ihnen ein konkretes Beispiel für eine solche rassistische Formulierung ein, die noch in den neunziger Jahren schwer vorstellbar gewesen wäre?

Die rassistische Behauptung von Friedrich Merz, dass Flüchtlinge Deutschen die Zahnarzttermine wegnehmen. Das Schlimme an solchen Aussagen wie der von Merz ist: Auch wenn faktisch gar nichts dahinter steckt, bleibt immer etwas hängen.

Aber auch der Umgang mit bestimmten Zahlen in vielen Medien gibt mir zu denken. Nehmen wir das Beispiel: Ausreise und Abschiebung. Immer wieder wird zitiert, dass es 300.000 Menschen in Deutschland gebe, die abgeschoben werden könnten.

Wenn man ins Ausländerzentralregister schaut, dann findet man diese Zahl tatsächlich auch. Sie beschreibt aber nicht die Personen, die akut ausreisepflichtig sind. Denn 80 Prozent davon haben eine Duldung. Sie können also beispielsweise aus humanitären Gründen nicht abgeschoben werden. Oder auch, weil die Länder, aus denen sie gekommen sind, sie nicht zurücknehmen. Bleiben 20 Prozent übrig. Doch auch die Zahl kann man nicht nehmen. Denn das Ausländerzentralregister erfasst zum Beispiel nicht die Leute, die freiwillig ausgereist sind, ohne jemandem Bescheid gesagt zu haben.

Wo verläuft die Grenze zwischen sachlicher Diskussion einerseits und Diskriminierung und Rassismus andererseits, wenn es um Migration geht?

Nehmen wir die Themen "Unterbringung" und "illegale Einreise". Da kann man sagen: "Die Kommunen haben momentan Probleme, sie haben keine freien Betten, kaum Unterbringungsmöglichkeiten. Was kann man dagegen unternehmen?" So, finde ich, kann man in eine sachliche Auseinandersetzung einsteigen.

Man überschreitet aber eine Grenze, wenn man statt dessen gleich sagt: "Wir haben keinen Platz, unsere Kapazitäten sind erschöpft. Das zeigt, dass wir keine neuen Flüchtlinge aufnehmen können." Noch schlimmer wird es, wenn man diese Ablehnung dann auch noch mit der verbreiteten Überfremdungs-Rhetorik verbindet. Da spätestens wird es für mich rassistisch.

Olaf Scholz mit verschränkten Händen
Getrieben von rechts? Kanzler Olaf Scholz möchte das Asylrecht verschärfen. Bild: Imago | Future Image

Dass in Deutschland mit der Ampel-Koalition ausgerechnet eine SPD-geführte Regierung mit grüner Beteiligung schneller abschieben möchte, überrascht viele Beobachter ein wenig. Wie erklären Sie sich das?

Es überrascht auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick überrascht es nicht so sehr. Denn gerade eine Regierung, von der die Vorstellung herrscht, dass sie stark von Menschenrechten geleitet wird, sieht sich schon mal unter Zugzwang, eine harte Hand zu zeigen. Das sieht man auch an den heutigen Stellungnahmen von Ricarda Lang und Winfried Kretschmann zu dem Thema. Das sind Versuche, möglichen Vorurteilen gegen die eigene Partei, sie sei zu human orientiert, entgegen zu wirken, in dem man sagt: Eigentlich ist es demokratisch erwünscht, in diesem Bereich härter zu agieren.

Steckt dahinter der Einfluss von rechts, von der AfD, von der CDU, von der gesamten Opposition? Lässt sich die Ampel treiben?

Ja, auf jeden Fall. Da sehe ich einen ganz starken Zusammenhang. Die Vorgängerregierung, gerade mit Angela Merkels Vorgehen im Jahr 2015, hat ja auch gezeigt, dass auch eine konservative Regierung in Fragen der Migration humanitärer agieren kann, als es die aktuelle Regierung macht.

Weltweit sind immer mehr Menschen auf der Flucht. Die Zahlen steigen tendenziell immer weiter an. Was könnte Deutschland, was könnten andere Länder tun, um Abhilfe zu schaffen?

Man kann darauf keine schnellen Antworten geben. Es geht hier um eine langfristige Entwicklung. Wir müssen akzeptieren, dass wir in einer komplizierten und in einer vernetzten Welt leben. Man sieht das aktuell beispielsweise daran, dass die Zahl der Asylanträge von Menschen aus Pakistan enorm steigt. Darüber wundert man sich zwar zunächst. Es hat aber damit zu tun, dass die in Pakistan lebenden Afghanen dort seit heute illegal leben.

Das heißt: Die Entscheidung der pakistanischen Regierung, Menschen nach Afghanistan abzuschieben, führt dazu, dass auch in Westeuropa die Zahlen der Asylbewerber aus dieser Region ansteigen. Man muss immer in solchen Verknüpfungen denken, um Fragen der Migration und der Flucht zu begreifen. Das sind globale Herausforderungen.

"Symbolpolitik": Schärfere Abschiebe-Regeln ernten in Bremen Kritik

Bild: Radio Bremen
  • In Bremen sind 200 Flüchtlinge mehr angekommen als vor einem Monat

    Im September sind rund 1.100 Menschen nach Bremen geflohen. Das teilte das Sozialressort auf Anfrage von buten un binnen mit. Nicht alle werden in Bremen bleiben.

Autorinnen und Autoren

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 1. November 2023, 19.30 Uhr