Infografik

"Komme mit dem Geld nicht hin": Bremens Mittelschicht in der Inflation

Hohe Kosten, kaum Sparpotenzial: Die Inflation trifft nicht mehr nur die Armen. Drei Bremer aus der Mittelschicht erzählen, wie sie aktuell an den Rand der Armut gedrängt werden.

Er verdiene gar nicht schlecht, sagt Alexander Waalkes. Für einen Industriekaufmann, der zudem bis vor kurzem in einem anderen Beruf tätig gewesen ist, seien 2.700 Euro brutto ein anständiges Gehalt. Ohnehin könne er sich über seinen Arbeitgeber nicht beklagen. Er fühle sich in seiner Firma, einem Telekommunikationsunternehmen, sehr wohl. Das Problem sei nur: "Ich komme mit dem Geld nicht hin", sagt Waalkes. Schuld sei die Inflation.

Knapp 40-jähriger Mann mit kurzen, leicht grauen Haaren guckt für Foto im Freien in die Kamera
Alexander Waalkes war mit seinem Einkommen bisher zufrieden. Mit der Inflation wird es schwierig. Bild: Radio Bremen | Alexander Schnackenburg

Habe er voriges Jahr noch alle drei Tage 30 Euro für seine Einkäufe benötigt, so müsse er heute etwa 55 Euro alle drei Tage hinlegen, um ungefähr das Gleiche zu bekommen. Anders ausgedrückt: Um seine alltäglichen Bedarfe abzudecken, ist Waalkes voriges Jahr noch mit rund 300 Euro im Monat hingekommen. Jetzt braucht er dafür 550 Euro. "Das ist mehr Geld, als ich eigentlich ausgeben kann", sagt der 39-Jährige.

Denn maximal zur Verfügung stünden ihm 440 Euro für die monatlichen Einkäufe, also gut 100 Euro weniger als er benötige. Der Rest seines Nettoeinkommens von 1.800 Euro gehe für die Miete, für Nebenkosten, für den Strom, für die Telekommunikation, für das Auto und für Sprit drauf. Nur, weil er ein bisschen Geld auf der hohen Kante liegen habe, komme er noch über die Runden, sagt Waalkes. Irgendwann aber werde das Ersparte aufgebraucht sein. "Vor einem Jahr hätte ich von meinem Gehalt noch ein bisschen zur Seite legen können", stellt er fest.

Was Alexander Waalkes von 2.700 Euro für Einkäufe bleibt

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Kaum Sparpotenzial

Waalkes Möglichkeiten, Kosten zu senken, sind überschaubar. Er wohnt in einer rund 60 Quadratmeter großen Wohnung am Osterdeich, für die er mit knapp 600 Euro Kaltmiete einen marktüblichen Preis bezahlt. Hinzu kommen derzeit 225 Euro Nebenkosten monatlich. Weil Waalkes aufgrund der gestiegenen Heizkosten aber mit einer Nachzahlung rechnet, kalkuliert er die Nebenkosten mit insgesamt 300 Euro.

Um spürbar billiger zu wohnen, müsste ich wohl in eine WG umziehen. Das möchte ich nicht.

Alexander Waalkes

Auch an den übrigen Posten gebe es nicht viel zu rütteln: Mit 80 Euro für Steuern und Versicherung sowie mit 280 Euro monatlicher Fahrtkosten schlägt Waalkes’ Auto ziemlich deutlich zu Buche. Die Kosten wären allerdings noch viel höher, könnte er nicht an drei von fünf Werktagen pro Woche aus dem Homeoffice arbeiten. Rund 50 Kilometer müsse er fahren, um vom Osterdeich zu seiner Arbeitsstelle in Delmenhorst und wieder zurück zu gelangen. Dafür sei er auf das Auto angewiesen.

"Ich kenne viele Leute, die deutlich weniger verdienen als ich. Wie die zurecht kommen, weiß ich nicht", sagt Waalkes. Für ihn steht fest: "Ich muss mehr Geld verdienen." Daher wolle er sich nebenberuflich im IT-Bereich weiterbilden – und die so erworbenen Kenntnisse für ein etwas höheres Gehalt möglichst in demselben Unternehmen einbringen, in dem er sich wohl fühlt. Bis es aber so weit ist, muss Waalkes kurz und kürzer treten: "Keine Ahnung, wie das weitergehen soll, wenn die Inflation anhält", sagt er. Statt zu verreisen, verbringt er seinen Urlaub zuhause – aus Kostengründen.

"Fahre nur noch mit 80 km/h über die Autobahn"

Mann mit Brille und Glatze in einem Garten guckt für Foto in die Kamera
Fürchtet sich vor der Nebenkostenabrechnung: Daniel Meyer. Bild: Daniel Meyr

An kostspielige Urlaube möchte auch Daniel Meyer keine Gedanken verschwenden. Der 49-Jährige lebt in Schwanewede und möchte dort auch bleiben. Denn dort lebe auch seine Familie, sagt er, seine Eltern seien pflegebedürftig. Daher wolle und müsse er gut erreichbar bleiben. Der Haken an der Sache: Meyer arbeitet bei einem Logistik-Unternehmen in Bremerhaven. "Mit öffentlichen Verkehrsmitteln müsste ich erst nach Bremen-Burg und von dort mit dem Zug nach Bremerhaven. Das dauert ewig", erklärt er. Daher führe für ihn kein Weg am Auto vorbei.

Die vielen Autofahrten zwischen Schwanewede und Bremerhaven aber kommen Meyer teuer zu stehen. "Ich habe einen täglichen Weg von 104 Kilometern hin und zurück", sagt er. Allein seine monatlichen Spritkosten lägen zur Zeit bei knapp 400 Euro. Dabei hat Meyer seinen Fahrstil bereits stark angepasst: "Mittlerweile fahre ich nur noch mit 80 km/h über die Autobahn", sagt er. Auch tankt er nur noch unter Zuhilfenahme einer Tank-App, die ihm anzeigt, wo das Benzin gerade am billigsten ist.

Einkaufswege versucht er, mit dem Arbeitsweg zu verbinden, um unnötige Strecken mit dem Auto zu vermeiden. "Notfalls gehe ich zu Fuß oder fahre mit dem Rad", fügt Meyer hinzu. Essensreste, die er früher vielleicht weggeschmissen hätte, friert er heute ein oder isst sie am Folgetag. "Und der Einkauf wird nicht mehr danach gemacht, was wir essen wollen, sondern was im Angebot ist, oder was man zu den Beständen zu Hause ergänzen kann", sagt Meyer. Doch so sehr Meyer sich auch einschränkt – einer möglichen Nachforderung, etwa für Strom, sieht er mit Sorge entgegen. Denn er weiß nicht, woher er das Geld dafür nehmen soll.

"Kind zum ungünstigsten Zeitpunkt bekommen"

Dunkelblonde Frau, Ende 20, mit Jeanshemd lächelt zwischen Häuserzeilen für Foto in die Kamera
Muss auf Rücklagen zugreifen, um über die Runden zu kommen: Laura. Bild: privat

Woher sie das Geld für’s Leben nehmen soll – das ist eine Frage, die sich auch für Laura mit fortschreitender Inflation immer öfter stellt. Und das, obwohl die 29-Jährige aus der Bremer Neustadt als Leiterin einer Kita einen guten Job hat. Allerdings hat Laura vor drei Monaten ein Kind bekommen, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, wie sie sagt.

Das Kind ist eine Bereicherung, definitiv. Aber nicht für unser Bankkonto.

Laura, junge Mutter

Die junge Mutter ist in Elternzeit. Sie bekommt daher momentan nur etwa zwei Drittel ihres üblichen Gehalts. Hinzu kommt: Laura ist die Hauptverdienerin ihrer Familie. Ihr Mann studiert noch, und verdient als studentische Hilfskraft ein bisschen Geld hinzu, aber eben nur ein bisschen. Der Familie bleibt keine andere Wahl, als die Kosten zu senken, wo es nur geht, selbst bei der Ernährung. So hat Laura Bio-Produkte, die sie noch vor kurzem bevorzugt gekauft hat, vom Einkaufszettel gestrichen. "Das können wir uns einfach nicht mehr leisten", sagt sie dazu.

Genau wie Daniel Meyr und Alexander Waalkes sorgt sich Laura wegen der steigenden Nebenkosten. Die Badewanne benutze sie schon gar nicht mehr. Außerdem habe sie Angst davor, gerade mit Hinblick auf ihre kleine Tochter, dass das Heizen im Winter unbezahlbar werde, sagt die Mutter.

Schon jetzt leben Laura und ihre junge Familie auch von Rücklagen. Eigentlich, sagt sie, seien diese Rücklagen einmal gedacht gewesen, um etwas besonders Schönes zu bezahlen, beispielsweise Urlaub. Doch daran sei nun nicht zu denken. Das Geld werde gebraucht, um die Familie über Wasser zu halten. "Ich möchte gar nicht wissen, wie es Menschen geht, die beispielsweise von Hartz IV abhängig sind. Wie die das hinkriegen, ist mir schleierhaft", sagt Laura. Schließlich sei es doch inzwischen selbst für Leute wie sie, die im Grunde zur Mittelschicht gehörten, verdammt eng geworden.

Kann Bremens Politik etwas gegen die wachsende Armut tun?

Bild: Imago | Chromorange

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Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Nachmittag, 14. Juli 2022, 16.35 Uhr