Mumien, Mythen, Goethe: Düstere Geheimnisse im Bremer Bleikeller

Bibelgarten und Mumien: Was hat der Bremer Dom zu bieten?

Bild: dpa | Ingo Wagner

Seit über 300 Jahren gilt der Bleikeller als Bremens gruseligste Sehenswürdigkeit. Auch weil sich um die Mumien, die im Gewölbe neben dem Dom ruhen, manch schaurige Legende rankt.

August von Goethe ist entzückt. Voller Freude über das Geschenk, das der Sohn des berühmten Dichters auf dem Postweg erhalten hat, verfasst er einen Dankesbrief: "Der Finger", schreibt der 14-Jährige dem Freund seines Vaters, "ist etwas sehr merkwürdiges für mich, weil man sich nun leicht einen Begriff von den ganzen Mumien machen kann." Mumien, die nicht aus Ägypten oder einem Museum stammen, sondern aus dem Bremer Bleikeller.

Bremer Mumien Ende des 17. Jahrhunderts entdeckt

Seit ihrer zufälligen Entdeckung durch einen Orgelbauer-Gesellen vor 325 Jahren gelten die Mumien als Sensation — und das Kellergewölbe, in dem Blei lagerte, als Bremens gruseligste Sehenswürdigkeit. "Dass es Mumien in Norddeutschland gibt, fasziniert die Leute", sagt Henrike Weyh, Leiterin der Domführungen.

Vor allem junge Leute können kaum glauben, dass sie echt sind.

Porträt von Henrike Weyh
Henrike Weyh, Leiterin der Domführungen
Blick in den Bleikeller in Bremen, ein christliches Relief hängt an der Wand.
Bildliche Darstellungen wie das Jonas-Motiv sollen die Bleikeller-Besucher zum Nachdenken anregen. Bild: Radio Bremen | Helge Hommers

Über die Jahrhunderte zogen die Toten mehrfach um, bis sie 1984 zwischen St.-Petri-Dom und Bibelgarten ihre jüngste Heimat fanden. 16 Treppenstufen führen hinab in den kalten, mit Lampen ausgeleuchteten Kellerraum, der die acht Mumien beherbergt. Die Decken sind niedrig, die Wände weiß und teils mit biblischen Darstellungen, teils alten Mauerreliefs geschmückt.

Früher umgab die Leichname eine "spektakulärere" Szenerie: Totenschädel, von der Decke baumelnde Fledermauskadaver und eine Affenmumie verwandelten den Bleikeller in ein Gruselkabinett. Anstatt wie in der Vergangenheit die Mumien zur Schau zu stellen, soll der Bleikeller heutzutage vor allem Denkanstöße geben, so Weyh.

Wir bemühen uns, ihnen den Charakter einer Anregung zu geben, über die Endlichkeit des Lebens nachzudenken.

Porträt von Henrike Weyh
Henrike Weyh, Leiterin der Domführungen

Trocknungsprozess überholt Verwesungsprozess

Dass die Mumien so gut erhalten sind, ist mehreren Umständen zu verdanken. Zum einen wurden die Toten im Winter beerdigt und somit in einer Jahreszeit, in der keine Aasfliegen aktiv sind und die Leichname hätten zersetzen können. Zum anderen herrschte in der Ostkrypta des Doms, in der die Mumien einst gefunden wurden, trockenes und kaltes Klima. Und weil der Dom selbst auf einer Düne und somit auf Feuchtigkeit aufsaugendem Sand steht, trockneten die Toten besonders schnell aus.

Die Körper lagen in so trockener, kalter und fliegenfreier Luft, dass der Trocknungsprozess den Verwesungsprozess überholt hat.

Porträt von Henrike Weyh
Henrike Weyh, Leiterin der Domführungen
Eine Postkarte zeigt eine alte Zeichnung aus dem Inneren des Bremer Bleikeller.
Alte Postkarten zeigen, wie die Bleikeller-Mumien der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Bild: Imago | Arkivi

Der Aufwand, den das Bleikeller-Team betreibt, um das Leben der Mumien zu verlängern, ist überschaubar: Notwendig sind nur das regelmäßige Messen des Raumklimas sowie das Säubern des Bleikellers. "Bisher geht es ihnen gut, auch ohne dass wir besondere Maßnahmen ergreifen", so Weyh.

Die Bremer Mumien umwehen Mythen

Gestorben sind die Bewohner des Bleikellers, die von Glasscheiben geschützt in offenen Holzsärgen ruhen, im 17. und 18. Jahrhundert in Bremen. Trotz ihres Alters sind bei einigen noch die Finger- und Fußnägel, die Zähne und die Haare, ja sogar ein Bartflaum gut erkennbar. Manche halten die Hände ineinander verschränkt, fast so, als würden sie beten.

Blick in den Bleikeller in Bremen: gefaltete Hände einer Toten.
Bei einigen Mumien sind sogar die Fingernägel noch deutlich zu erkennen. Bild: Radio Bremen | Helge Hommers

Wer die Toten sind, ist hingegen mal mehr, mal weniger gut bekannt. Eine Mumie galt wegen ihres aufgerissenen Mundes lange als Dachdecker, der vom Domturm gefallen sei und im Fallen einen letzten Todesschrei ausgestoßen habe. Erst eine Röntgenuntersuchung in den 1980er-Jahren widerlegte die über Generationen weitergetragene Mär: Statt gebrochener Knochen fanden die Ärzte im Rücken des Mannes eine Kugel, die seinen Tod mitverursacht hatte. Trotz des entzauberten Mythos ist der "Dachdecker" aber weiterhin der "unumstrittene Liebling" der Bleikeller-Besucher, so Weyh.

Von englischer Lady bis schwedischem General

Auch die "englische Lady Stanhope" hatte weder blaues Blut in den Adern noch war sie — wie überliefert — der Syphilis erlegen. Ebenso stammte der "schwedische General von Winsen" aus Pommern und war nur Oberst – dafür aber wohlbeleibt, wie sein korpulenter Leichnam nahelegt. Wie all die Mythen in Umlauf kamen, ist unklar. Weyh vermutet aber ein "Bedürfnis nach Sensation" als Motivation.

Wir alle gieren nach spannenden Geschichten — und eine Leiche kann die Fantasie nun mal leicht beflügeln.

Porträt von Henrike Weyh
Henrike Weyh, Leiterin der Domführungen

Verbrieft ist hingegen das Schicksal von Konrad Ehlers, der den einstigen Dom-Herren als menschliches Versuchskaninchen diente. Auf seine alten Tage hin hatte Ehlers eingewilligt, sich für Unterkunft und Verpflegung nach seinem Ableben zwischen den Mumien beerdigen zu lassen. Der tote Tagelöhner sollte so beweisen, dass der Keller eine konservierende Wirkung habe — und das Experiment glückte, wie das scheinbare Lächeln des verstorbenen Ehlers auch 235 Jahre später noch bezeugt.

Abgebrochene Daumen als Souvenir

Die meisten Menschen, die den Bleikeller aufsuchen, sind Touristen. "Es sind aber auch viele Bremer dabei, die ihren Besuchern etwas zeigen wollen", so Weyh. Zwar treibe die meisten Leute immer noch der "Gänsehautfaktor" oder die "wissenschaftliche Neugier" zu den Mumien. Einzelne suchen sie aber auch auf, um einen Verlust zu verarbeiten. Wieder andere — egal ob alt oder jung — bekommen jedoch kalte Füße, überlegen es sich nahe des Eingangs noch einmal anders und drehen wieder um.

Zu sehen sind die Fußknochen einer Mumie im Bremer Bleikeller.
Der Anblick der Bleikeller-Mumien gefällt nicht jedem Besucher. Bild: Radio Bremen | Helge Hommers

Von denen, die über die Jahrhunderte den Keller betraten, pflegten jedoch nicht alle einen pietätvollen Umgang mit den Toten — auch weil diese erst seit den 1960er-Jahren unter Glasscheiben liegen. Bis dahin wurden die Leichname teils aus ihren Särgen gehoben, teils in ihrem Inneren gewühlt oder nach Schusswunden gebohrt. Manch einer nahm sich sogar Haare, Hautfetzen oder Knochen als Andenken mit — so wie ein US-amerikanischer Offizier, der nach Kriegsende auf der Jagd nach Souvenirs einer Mumie den Daumen abbrach.

Das geht wohl auf den Grundinstinkt zurück, dass ich nur an einem Ort gewesen bin, wenn ich von dort auch etwas mitgebracht habe.

Porträt von Henrike Weyh
Henrike Weyh, Leiterin der Domführungen

Bleikeller-Finger liegt im Goethe-Haus

Jener Finger wiederum, den der Bremer Arzt Nicolaus Meyer im Jahr 1803 der Familie seines berühmten Freundes nach Weimar schickte, befindet sich noch heute in der Goethe-Stadt: Das morbide Präsent gehört zur Sammlung des Goethehauses — zusammen mit einer Kinderhand, die angeblich ebenfalls aus dem Bremer Bleikeller stammt.

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Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 7. Dezember 2023, 19:30 Uhr