Hintergrund

BSAG-Preise, Vulkan, Fremdenhass: 10 Bremer Rekord-Demos im Vergleich

Collage zeigt 3 Demonstrationen aus unterschiedlichen Jahrzehnten in Bremen: 1968 gegen die Fahrpreiserhöhung, 2024 gegen Rechtsextremismus und 1996 gegen die Schließung der Vulkan-Werft.
Menschen aus Bremen und Bremerhaven gingen vor dem Hintergrund großer gesellschaftlicher Debatten immer wieder auf die Straße, im ihre Meinung zu vertreten. Bild: dpa/Radio Bremen | Jochen Stoss/Kay Nietfeld/Montage Radio Bremen

Heute waren bis zu 7.000 Bremerhavener gegen Rechtsradikalismus auf der Straße. Solche Großdemos haben im Land Bremen Tradition – auch die Seestadt zählt eine Rekord-Kundgebung.

Großdemos und Kundgebungen mit zehntausenden Menschen gibt es in Bremerhaven und Bremen seit jeher. Der Rückblick auf die zehn größten von ihnen ist auch ein Fenster in die Geschichte des kleinsten deutschen Bundeslandes.

  1. 1958: Erster-Mai-Kundgebung der Gewerkschaften.
  2. 1968: Bremer Straßenbahnunruhen.
  3. 1980: Rekrutenvereidigung im Weser-Stadion.
  4. 1983: Ostermarsch gegen den Nato-Doppelbeschluss.
  5. 1983: Schließung der AG Weser.
  6. 1991: Protest gegen den ersten Irak-Krieg.
  7. 1992: Lichterkette gegen Ausländerfeindlichkeit.
  8. 1996: Proteste gegen das Aus der Bremer Vulkan AG.
  9. 2019: Fridays-for-Future-Demo.
  10. 2024: "Laut gegen Rechts" für demokratisches Miteinander.

1 1958: Erster-Mai-Kundgebung der Gewerkschaften

Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts demonstrieren Gewerkschaften am 1. Mai für die Rechte der arbeitenden Menschen. Auch in Bremen haben die Kundgebungen eine lange Tradition. 1958 steckten die Arbeitnehmervertreter beispielsweise mitten im Arbeitskampf für die branchenübergreifende Einführung einer 40-Stunden-Woche. Im selben Jahr fand vor diesem Hintergrund auch die bislang größte in Bremen veranstaltete Mai-Kundgebung auf dem Domshof statt. Den Organisatoren zufolge sollen dort bis zu 80.000 Menschen gekommen sein.

Dass sich zu dieser Kundgebung so viele Menschen versammelten, könnte auch mit der Vermischung des Arbeitskampfes mit einem anderen Thema zusammenhängen. Denn zwei Wochen zuvor hatten CDU und CSU im Bundestag die Ausrüstung der Bundeswehr mit Nuklearwaffen beschlossen – gegen den vehementen Widerstand der SPD. Auch in Hamburg – wie Bremen damals von der SPD regiert – waren daraufhin rund 150.000 Menschen unter dem Motto "Kampf dem Atomtod!" auf die Straße gegangen.

2 1968: Bremer Straßenbahnunruhen

Die Fahrpreise der BSAG sind bis heute ein sensibles Thema. Im Januar 1968 vermischte sich der Frust über gestiegene Ticketpreise jedoch mit dem Protest der bundesweiten 68er-Bewegung.

Schüler und Studenten demonstrieren im Januar 1968 in der Bremer Innenstadt gegen angekündigte Fahrpreiserhöhungen der Bremer Staßenbahn AG.
70 Pfennig für ein Straßenbahnticket war vielen Schülern ein zu hoher Preis. Bild: dpa | Jochen Stoss

Schüler und Studierende forderten mehr Mitbestimmung in vielen Belangen und protestierten gegen den "Bildungsnotstand". Darüber hinaus verurteilten sie den Vietnamkrieg.

Nachdem die BSAG zum Jahreswechsel die Preise für Einzelfahrschein-Preise von 60 auf 70 Pfennig und Sammelkarten-Preise für Schüler, Lehrlinge und Studierende von durchschnittlich 33,30 auf 40 Pfennig pro Ticket heraufgesetzt hatte, kam es zum Aufstand. Der begann zunächst mit Sitzblockaden von zwei Dutzend Schülern auf den Gleisen der Domsheide. Nachdem sich in den folgenden Tagen einige Tausend Demonstrantinnen und Demonstranten angeschlossen hatten, Busse und Bahnen beschädigten und Knallkörper warfen, setzte die Polizei schließlich Wasserwerfer ein. Das jedoch verschärfte die "Straßenbahnkrawalle" nur, sodass sich am 18. Januar rund 20.000 Demonstranten aus Solidarität in der Innenstadt versammelten.

Der Senat um Bremens damals frisch ins Amt gewählten Bürgermeister Hans Koschnick (SPD) lenkte letztlich ein. Die Fahrpreiserhöhungen von 1968 wurden zurückgenommen.

3 1980: Rekrutenvereidigung im Weser-Stadion

Ausschreitungen während der Proteste gegen die Rekrutenvereidigung im Weserstadion 1980 in Bremen.
1980 wurde der Osterdeich während der Gelöbnisfeier von 1.200 Bundeswehr-Rekruten im Weser-Stadion zu einem Schlachtfeld zwischen Protestanten und Polizei. Bild: dpa | Ulrich Baumgarten

Aus Anlass der 25-jährigen Nato-Mitgliedschaft Deutschlands sollte in Bremen am 6. Mai die erste von mehreren öffentlichen Gelöbnisfeiern von Bundeswehrrekruten stattfinden. 1.200 Rekruten hatten sich dazu im Weser-Stadion versammelt.

Die Stimmung war jedoch schon Tage zuvor aufgeheizt. Denn Bremen galt als Hochburg der Vertreter der Friedensbewegung und auch radikaler linker Gruppen. Bis zu 15.000 Demonstranten versammelten sich vor diesem Hintergrund, um gegen die Vereidigung zu demonstrieren. Einige Hundert gingen dabei mit Pflastersteinen und Eisenstangen auf die Polizei los, beschossen Hubschrauber mit Leuchtkugeln, setzten Bundeswehrfahrzeuge in Brand und versuchten ins Weser-Stadion einzudringen. Das Gelöbnis samt Zapfenstreich wurde dennoch bis zum Ende durchgezogen.

Rückblick: Krawalle bei Rekruten-Vereidigung im Bremer Weser-Stadion

Bild: Radio Bremen

Für die Aufarbeitung der Geschehnisse setzte der Bundestag später einen Untersuchungsausschuss ein. Auch der Bremer Schriftsteller Sven Regener widmete "der Schlacht am Weserstadion" ein Kapitel in seinem 2004 erschienenen und 2010 verfilmten Roman "Neue Vahr Süd".

4 1983: Ostermarsch gegen den Nato-Doppelbeschluss

Bundesweit erlebten die sogenannten Ostermärsche Anfang der 1980er Jahre einen Höhepunkt. Kriegsgegner protestierten für Abrüstung und gegen den im Dezember 1979 im Zuge des Kalten Kriegs gefällten Nato-Doppelbeschluss. Demzufolge sollten erstens mit Atomsprengköpfen ausgerüstete Mittelstreckenraketen in Westeuropa stationiert, zweitens gegenseitige Rüstungskontrollen eingeführt werden.

"Allein in Bremen unterzeichneten über 100.000 Bürgerinnen und Bürger den Krefelder Appell gegen die Stationierung neuer Atomraketen", schreibt das 1983 gegründete Bremer Friedensforum, ein breites Bündnis aus Parteien, Gruppen und Initiativen. Kritisiert wurde auch die US-Militärpräsenz in Bremerhaven und Nordenham.

Rund 12.000 Teilnehmende sollen beim Ostermarsch 1983 vor diesem Hintergrund zusammengekommen sein, um für die Abrüstung zu demonstrieren. Bei einer Menschenkette für den Frieden versammelten sich im selben Jahr noch einmal rund 10.000 Menschen in Bremen.

5 1983: Schließung der AG Weser

Kurz vor der Abwicklung der Bremer Großwerft AG Weser am 10. September 1983 demonstrieren auf dem Werksgelände mehr als 25.000 Menschen für den Erhalt von "use Akschen", also von "unserer Aktiengesellschaft".

Der damalige Bürgermeister von Bremen Hans Koschnik spricht per Megafon mit den demonstrierenden Beschäftigten der AG Weser 1983 auf dem Bremer Marktplatz
Bremens damaliger Bürgermeister Hans Koschnick war selbst im durch "use Akschen" geprägten Bremer Stadtteil Gröpelingen aufgewachsen. Bild: Staatsarchiv Bremen

Der Termin der Versammlung war nicht zufällig gewählt. Er fand zwei Wochen vor der Bürgerschaftswahl in Bremen statt. Und die Belegschaft hoffte auf eine Bürgschaft des Bremer Senats in Höhe von 30 Millionen D-Mark, um die Liquidität zu sichern.

Der Senat um Bürgermeister Hans Koschnick entschied sich dagegen. Auch deshalb, weil die auf den Bau von Supertankern spezialisierte Werft im Zuge der Ölkrisen im Rennen mit asiatischen Werften den Anschluss verloren hatte und auch der Mutterkonzern Krupp keine Zukunft für die Werft sah.

Ende des Jahres hatten rund 2.000 Beschäftigte ihren Job bei "use Akschen" in Gröpelingen verloren.

6 1991: Protest gegen den ersten Irak-Krieg

Im Januar 1991 demonstrierten in verschiedenen deutschen Städten insgesamt mehrere hunderttausend Menschen gegen den Zweiten Golfkrieg. Wenige Monate zuvor hatte der Irak den kleinen und ölreichen Nachbarstaat Kuwait erobert. Unter Führung der USA und gedeckt durch eine UN-Resolution kämpfte ab Mitte Januar 1991 eine Kriegskoalition gegen die Besatzer. Auch Deutschland beteiligte sich mit finanziellen Mitteln, Kampfflugzeugen, Rettungshubschraubern und Spürpanzern an dem Krieg.

In der Bremer Innenstadt protestierten am 12. Januar 1991, also noch vor Ausbruch der Kriegshandlungen, rund 12.000 Demonstranten auf dem Marktplatz gegen den bevorstehenden Irak-Krieg. Am 15. Januar versammelten sich an selber Stelle noch einmal 10.000 Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte. Und am 19. Januar zogen rund 7.000 Demonstranten vom Steintor zum Marktplatz. An diesem Tag kamen auch Wasserwerfer der Polizei zum Einsatz, als rund 800 Demonstranten versuchten den Hauptbahnhof zu besetzen.

Den Zweiten Golfkrieg verhinderte der Protest nicht. Er dauerte noch bis zum 28. Februar 1991.

7 1992: Lichterkette gegen Ausländerfeindlichkeit

Rund 80.000 Menschen beteiligten sich 1992 an einer fünf Kilometer langen Lichterkette am Weser-Ufer in Bremen, um gegen die damals gegenwärtige Ausländerfeindlichkeit zu protestieren. "Es war die größte Demonstration, die die Hansestadt je gesehen hat", berichtete buten un binnen damals.

Rückblick: 1992 demonstrierten rund 80.000 Bremer gegen Rassismus

Bild: Radio Bremen

Dem stillen Protest zwischen Erdbeerbrücke und Stephanibrücke vorausgegangen waren von Rechtsradikalen und Neonazis ausgeübte Anschläge auf Asylbewerberheime und auf Häuser von ausländischen Mitmenschen. Die Demonstranten waren mit Kerzen, Wunderkerzen, Fackeln, Lampions und Taschenlampen erschienen. Begleitet wurden sie vom Klang zahlreicher Kirchenglocken in der gesamten Innenstadt.

8 1996: Proteste gegen das Aus der Bremer Vulkan AG

Nachdem 13 Jahre zuvor bereits das Ende der Bremer Großwerft AG Weser verkündet worden war, stand angesichts der übermächtigen asiatischen Konkurrenz im Februar 1996 auch die zweite Großwerft Bremens vor dem Aus: die Bremer Vulkan AG. Der Verbund bestand, neben Werften in Bremen und Bremerhaven, auch aus Standorten in Ostdeutschland. Insgesamt beschäftigte der Konzern knapp 22.500 Mitarbeiter.

Durch die erdrückende asiatische Konkurrenz hatten sich über die Jahre jedoch hohe Schulden aufgetürmt. Allein das Land Bremen hatte der klammen Werft Bürgschaften von rund 900 Millionen D-Mark (460 Millionen Euro) gewährt. Am 21. Februar 1996 stellte der kurz zuvor ernannte Vorstandsvorsitzende Udo Wagner schließlich beim Amtsgericht Bremen einen Vergleichsantrag. So sollte einer Konkursverschleppung begegnet werden.

Rückblick: 1996 protestierten in Bremerhaven 20.000 "Vulkanesen"

Bild: dpa | Kay Nietfeld

Daraufhin fanden sich am 22. Februar rund 20.000 "Vulkanesen" auf einer Großdemonstration in Bremerhaven zusammen, um gegen das Aus des 1893 gegründeten Werft-Verbunds zu protestieren. Im August stellte die Werft den Schiffbau im Stammwerk in Bremen-Vegesack endgültig ein.

9 2019: Fridays-for-Future-Demo

Unmittelbar vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie erreichte die Fridays-for-Future-Klimabewegung Ende 2019 einen Höhepunkt. Schon zuvor hatte es auch in Bremen an Freitagen Demos von Schülerinnen und Schülern gegeben, die sich für den Kampf gegen den Klimawandel stark machten. Die bislang größte Fridays-for-Future-Demo in Bremen fand schließlich am 20. September 2019 auf und rund um den Marktplatz statt.

Rückblick: 31.000 Menschen gehen in Bremen fürs Klima auf die Straße

Bild: Radio Bremen | Susanne Brahms

Nach Angaben der Polizei nahmen an der Demonstration rund 31.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene teil und sangen Parolen wie: "Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!" Die Veranstalter sprachen sogar von rund 40.000 Teilnehmenden.

10 2024: "Laut gegen Rechts" für demokratisches Miteinander

Wachsender Fremdenhass, die fortschreitende Duldung rechtsradikaler Tendenzen in der Politik und ein Geheimtreffen zur Planung einer massenhaften Ausweisung von Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund unter Beteiligung von AfD-Politikern bewogen im Januar 2024 viele Menschen dazu, ihre Stimme gegen diese Entwicklungen zu erheben.

Was Bremer Demonstranten über den Rechtsruck denken

Bild: Radio Bremen | Eleni Christoffers

Die Veranstalter der Bremer Demo "Laut gegen Rechts" hatten ursprünglich mit rund 500 Teilnehmenden auf dem Marktplatz gerechnet. Am 21. Januar um "fünf nach zwölf" versammelten sich rund um Domshof, Marktplatz und Domsheide der Polizei zufolge aber schließlich rund 50.000 Menschen. Die Veranstalter, die noch die vielen Demonstranten im weiteren Umfeld bis zur Schlachte und zum Hauptbahnhof mit einrechnen, nannten sogar 70.000 Teilnehmende.

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Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 21. Januar 2024, 19:30 Uhr