Interview

Öffentlicher Dienst: "Eine neue Ära der Tarifbeziehungen"

Angestellte im öffentlichen Dienst während eines Streiks in Bremen
Bild: dpa | Sina Schuldt

Die Bremer Arbeitswissenschaftlerin Irene Dingeldey sagt, die Kräfteverhältnisse haben sich verschoben. Was das für den Tarifstreit im öffentlichen Dienst bedeutet.

Drei Verhandlungsrunden sind gescheitert, jetzt läuft das Schlichtungsverfahren. Am Samstag, 22. April, kommen die Gewerkschaften und die kommunalen Arbeitgeber wieder zusammen, um über den Schlichterspruch zu beraten. Bis dahin darf nicht gestreikt werden. So hart wie dieses Mal wurde lange nicht um höhere Löhne gekämpft – Expertinnen und Experten sind sich auch nicht einig, ob der Streit jetzt wirklich gelöst wird. Warum die Verhandlungen dieses Mal so hart geführt werden – und ob das jetzt vielleicht häufiger passiert, hat die Leiterin des Instituts für Arbeitswissenschaften Irene Dingeldey im Gespräch mit buten un binnen erklärt.

Dass ein Tarifstreit drei Verhandlungsrunden andauert und in eine Schlichtung geht, ist nicht üblich. Wie erklären Sie das?

Eine Schlichtung ist nicht alltäglich – aber ich denke, dass wir uns aufgrund der hohen Inflationsrate auf der einen Seite und dem Arbeitskräftemangel auf der anderen Seite einer neuen Ära der Tarifbeziehungen zuwenden. Wegen der extrem niedrigen Inflationsraten der letzten 15 Jahre sind wir hohe – nominale– Lohnforderungen nicht mehr gewöhnt, wir kennen das nicht mehr. Auch Arbeitskonflikte sind etwas Normales in der Tarifauseinandersetzung. Durch die hohen Inflationsraten ist der Verteilungskampf jetzt schärfer.

Den verschärften Verteilungskampf – also wer kriegt wie viel vom Kuchen – hat sich zuletzt in einer hohen Streikbeteiligung gezeigt. Die Arbeitgeberseite sagt, die Beschäftigten würden ihr Streikrecht "ausreizen". Was sagen Sie dazu?

In den letzten 15 bis 20 Jahren habe ich die Arbeitsbeziehung immer als friedvoll und kooperativ wahrgenommen. Das entspricht dem deutschen Modell. Jetzt haben sich die Rahmenbedingungen geändert – und damit der Verteilungskampf. Wir haben die Inflation und erleben einen arbeitnehmerdominierten Arbeitsmarkt. Denn es gibt Fachkräftemangel und einen großen Bedarf an Arbeitskräften. Damit verschieben sich Kräfteverhältnisse etwas zugunsten der Arbeiternehmer. Das gefällt dem Arbeitgeber nicht, aber das war auch lange andersrum: Wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist, ist es normal, dass bei den Löhnen Zurückhaltung geübt wird.

Der Bremer Wirtschaftsexperte Rudolf Hickel hält die hohen Forderungen der Arbeitnehmer für gut begründet vor diesem Hintergrund. Sie auch?

Die Forderungen halte ich auch für gut begründet. Es kommt immer auf die Perspektive an, wenn wir zum Beispiel aufgrund der Inflation den Kaufkraftverlust sehen. Der hat sich in den letzten Jahren schon abgezeichnet. In den Jahren von 2010 bis 2020 hat es Reallohnsteigerungen gegeben von durchschnittlich etwa zwei Prozent im Jahr. Allein in den Jahren 2020 bis 2022 sind davon schon wieder sieben Prozentpunkte verloren gegangen durch die Inflation. Das heißt, dass, was in den zehn Jahren davor Reallohngewinn war, ist jetzt zur Hälfte schon wieder weg. Das bedeutet Kaufkraftverluste besonders in den unteren Einkommensgruppen. Wir wissen, Lebensmittelpreise, Mieten und Energiekosten sind gestiegen, genau dafür geben die unteren Einkommensgruppen ihr Geld aus – und hier müssen sie jetzt sparen. Das ist extrem.

Das klingt nach einem – gerade jetzt - großen Spannungsfeld zwischen Bedürfnissen der Arbeitnehmer und den Arbeitgebern.

Es gibt ja noch eine andere Größe, die eine wichtige Rolle im Verteilungskampf, also bei Lohnverhandlungen, spielt. Das ist der Produktivitätsfortschritt. Der ist im öffentlichen Dienst schwer zu beziffern, aber in der Wirtschaft dagegen schon. Diesen Produktivitätsfortschritt, also die höhere Produktivität zum Beispiel durch veränderte Technologie, aber auch eine veränderte Arbeitsorganisation, die beispielsweise eine stärkere Arbeitsbelastung der Mitarbeiter beinhaltet, geben die Arbeitgeber mehr oder weniger gerne an die Arbeitnehmer weiter. Darüber hinaus geht es um die Frage, wer kriegt wie viel vom erwirtschafteten Mehrwert. Erhalten die Arbeitnehmer davon einen größeren Teil oder verbleibt er bei den Arbeitgebern? Zudem haben die Arbeitgeber die Möglichkeit, die Preise anzuheben, um ihren Gewinn trotz höherer Löhne zu sichern.

Wie wird so ein harter Verteilungskampf entschieden?

Die Arbeitnehmer wollen mit Lohnforderungen, die sich an der Inflationsrate orientieren, ihre Kaufkraft sichern. Für die unteren Einkommensgruppen ist das essentiell. Auch für die anderen – man kann weniger kaufen für das selbe Geld und für die gleiche Anstrengung. Inwiefern diese Forderungen eingelöst werden können, wird auch über Machtverhältnisse aufgelöst. Wenn es zum Streik kommt, müssen die Arbeitgeber überlegen, was sie als zentral ansehen: Was verlieren sie – wenn sie nichts produzieren? Was verlieren sie – wenn sie Zugeständnisse machen? Ein Streik kostet aber auch die Arbeitnehmer etwas, die Gewerkschaften müssen Streikgeld zahlen, das ist auch für sie verlustreich. Streik wird also von den Gewerkschaften nur wohl überlegt ausgerufen.

Wie schwierig ist die Lage für die Arbeitgeber in diesem Streit wirklich?

Es gibt Branchen und Unternehmen, die wirklich Probleme damit haben, wenn sie es nicht in Form von höheren Preisen auffangen können. Stellen Sie sich die Gastronomie vor: Gehen wir noch so viel essen, wenn es teurer wird? Sollte es hier allerdings zu Arbeitsplatzverlusten kommen, können Arbeitskräfte gegebenenfalls in wettbewerbsstarke Unternehmen und Branchen wechseln. Das kann sich positiv auf die Gesamtwirtschaft auswirken.

Für den öffentlichen Dienst ist das anders, der macht keinen Gewinn – für den sind das Kosten. Um diese zu decken, muss an anderer Stelle gespart oder Kredite aufgenommen werden. Und es gibt dann wieder Möglichkeiten vom Bund höhere Zuwendungen einzufordern, bis hin zu höheren Steuern. Das sind die Einnahmemöglichkeiten des öffentlichen Dienstes.

Anders als früher fordern die Gewerkschaften mit Nachdruck einen Festbetrag, also mindestens 500 Euro im Monat mehr, um die unteren Einkommensgruppen besonders zu stärken. Wie zielführend ist das aus Ihrer Sicht?

Ich finde das enorm wichtig, weil die unteren Einkommen auch im öffentlichen Dienst vergleichsweise niedrig sind. Aber auch Festbeträge haben ihren Nachteil, weil der Abstand zu den höheren Einkommensgruppen verloren geht, die sich dann benachteiligt fühlen, weil sie höhere Qualifikationen haben.

Die Schweden haben das in den 70er Jahren gemacht. Das hat die Folge, dass die Gesellschaft nach Einkommen gleicher wird. Und das ist von den Gewerkschaften wirklich ein solidarisches Handeln. Dadurch verändert sich das Einkommensgefüge, die Gewerkschaften wirken mit den Forderungen der sozialen Ungleichheit entgegen. Und die hat sich in den letzten 20 Jahren sehr erhöht.

Der Schlichtungszeitraum endet in wenigen Tagen. Werden sich die Parteien einigen, Frau Dingeldey?

Zuletzt lagen die Forderungen nicht so weit auseinander, von daher bin ich optimistisch. Wo genau die Tarifparteien aufeinander zugehen werden, da wage ich keine Prognose.

"Dampf ablassen": So wütend sind Beschäftigte im Öffentlichen Dienst

Bild: Radio Bremen

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Autorin

  • Autorin
    Birgit Reichardt Redakteurin und Autorin

Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Nachrichten, 15. April 2023, 11 Uhr