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Die Drift durchs Eis: Wie Forscher Schollen fanden und lieben lernten

Wie man eine Scholle findet und erschließt und warum Eis-Deformation "wunderschön" sein kann: Drei Forscher erzählen vom Treiben im arktischen Niemandsland.

Polarstern Route GRÖNLAND RUSSLAND 20. SEPTEMBER 2019 START IN TROMSÖ (NORWEGEN) 04. OKTOBER 2019 Die Drift im Eis beginnt. Schneller als erwartet hatten die Forscher eine passende Scholle gefunden – und das im wärmsten Sommer aller Zeiten. Bei der Suche hatten Helikopter und Satelliten geholfen. 04. NOVEMBER 2019 Das erste Forschungscamp wird errichtet, die Scholle wird besiedelt. Die Crew baut Wege und verlegt Versorgungsleitungen. 13. bis 18. Dezember 2019 Zum ersten Mal wechselt das Team – in völliger Dunkelheit der Polarnacht muss das erste Team seine Nachfolger einweisen. Das dritte Team kommt Ende Februar. MÄRZ 2020 Corona kommt, vieles ändert sich. Die Austauschflüge müssen zunächst abgesagt werden. Ein Teilnehmer, der später dazu stoßen soll, wird positiv getestet – sein ganzes Team muss in Quarantäne. Weil deren Expeditionen abgebrochen wurden, kommen zwei Forschungsschiffe dazu. Mit ihnen sind Versorgung und Personaltausch wieder möglich. 30. JULI 2020 Die Forschungsscholle zerbricht nach 300 Tagen Drift. Das hatten die Forscher erwartet. Das Camp wird abgebaut. 22. AUGUST 2020 Die Expedition findet eine neue Scholle und baut dort ein neues Forschungscamp auf. Kurz danach kommen auch wieder Versorgungsflüge zur Expedition. 30. SEPTEMBER 2020 Die Expedition hat ihre letzte Eisstation. Die Forscher messen und nehmen Proben. Am 4. Oktober verlässt die "Polarstern" Spitzbergen, den letzten logistischen Wegpunkt, und tritt die Heimreise nach Bremerhaven an.
Die Drift-Route der Polarstern. Durch Klicken auf die Punkte erfahren Sie mehr über wichtige Meilensteine.

Das Sich-treiben-lassen trägt die Expedition schon im Namen: "Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate" heißt "Mosaic" voll ausgeschrieben. 330 Tage hing die "Polarstern", ein 120-Meter-Koloss, an zwei Eisschollen fest und bewegte sich mit.

"Irgendwann hatten wir die perfekte Scholle"

Ein Mann im Eis, im Hintergrund die "Polarstern"
Stefan Hendricks ist Meereis-Physiker beim AWI und war bei der Mosaic-Expedition dabei. Bild: AWI | Esther Horvath

Dass man sich mit einer Eisscholle treiben lässt, ist nicht neu – das gab es schon zu Fridtjof Nansens Zeiten um die vorletzte Jahrundertwende. Doch die Vorgehensweise ist anders, schon bei der Suche einer passenden Scholle: "Heute sucht man nicht mehr mit den Augen, sondern wir hatten Satellitenbilder. Dann hatten wir einige Kandidaten, die wir der Reihe nach abgesucht haben – und irgendwann hatten wir dann die perfekte Scholle", sagt Stefan Hendricks, Meereis-Physiker beim Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut (AWI).

Er war selbst dabei, als sie die Scholle zum ersten Mal besucht haben. "Wir haben sie uns dann genauer angesehen, sie sollte ja auch für eine längere Zeit halten und arbeitstauglich sein", so Hendricks. "Der Zeitpunkt, bei dem wir uns für eine Scholle entschieden hatten, war dann auch der Moment, wo wir alle loslegen wollten." Die Wahl sei nicht auf die allerdickste, allersicherste Scholle gefallen, denn "wir wollten tatsächlich auch das jüngere Eis beproben." Die ausgesuchte Scholle sei ein guter Mix gewesen aus alt und neu:

Wir hatten einen kleinen Teil der Scholle, der war recht stabil, darauf haben wir dann hauptsächlich gearbeitet, wir konnten dann aber auch auf das dünnere Eis.

Stefan Hendricks

Schollenvermessung ganz ohne Tageslicht

Eine Frau in der Arktis
Stefanie Arnd leitete das Meereis-Team Bild: AWI

Mit dieser ersten, etwa 2,5 mal 3,5 Kilometer großen Scholle war die "Polarstern" dann 300 Tage unterwegs. Dabei war auch Christian Katlein, auch er ist Meereis-Physiker. Die Scholle war sein Arbeitsplatz, er erzählt, wie die Forschenden sie sich erschlossen haben – und zwar im Dunklen: "Wir haben uns mit diversen Methoden, also mit Laser-Scannern, mit Infrarot-Kameras, die Gegend erarbeitet. Dann hat man das wie mit einer Wanderkarte auch: Man weiß, wo es langgeht, und dann weiß man eben, wo was ist – und dann ist es gar nicht notwendig, dass man Licht hat." Am Ende hatte Katlein sich so an die optischen Verhältnisse gewöhnt, dass es ihn fast störte, als das Tageslicht wiederkam: "Meinetwegen hätte das Licht ruhig wieder ausgehen können."

Während der langen Drift veränderte sich die Scholle immer wieder, sie überraschte die Forscher mit Rissen im Eis und neuen Eisrücken. AWI-Forscherin Stefanie Arndt leitete auf einem Fahrtabschnitt das Meereis-Team und schildert fast prosaisch die Freude ihrer Kollegen: "Sie haben gesehen, wie wunderschön die Scholle deformiert, wie sie sich wieder zusammenschiebt, in welchem Rhythmus das passiert. Das haben wir uns am Ende des Tages einfach zum Programm gemacht: die Veränderungen."

Die Scholle brach mit lautem Knallen

Abbau von "Met City" auf der Mosaic-Eisscholle
Der Abbau: Kurz vor dem Bruch der Scholle zogen sich die Forscher zurück. Bild: AWI | Lianna Nixon

Im Juli dann das spektakuläre Ende: Unter lautem Knallen brach die Scholle in viele Einzelteile. Das war ein perfekter Zeitablauf: Gerade einen Tag vorher hatten die Forscher ihr Camp fertig abgebaut, sie hatten mit dem Bruch gerechnet. "Hier beendet sie nun ihren natürlichen Lebenszyklus, während sie unter dem Einfluss von Dünung und Wellen zerbricht, schließlich schmilzt und wieder zu dem Wasser des Ozeans wird", schrieb Expeditionsleiter Markus Rex damals. Auch er hatte zu der Scholle eine ganz besondere Beziehung aufgebaut.

In den vielen Monaten ist die Scholle für uns ein Zuhause geworden, das wir immer in Erinnerung behalten werden. Nun tritt sie ihren letzten Weg an. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen, und für die letzte Phase der Expedition nach Norden aufzubrechen.

Markus Rex vor dem Forschungsschiff Polarstern.
Markus Rex, Expeditionsleiter

Schon im August fanden die Forscher die nächste passende Scholle. Mit ihr trieben sie auf der "Polarstern" weiter. Diesmal nur für 30 Tage, denn dann ging die "Mosaic"-Expedition zuende.

Mehr zur Rückkehr der "Polarstern"

  • ganze Sendung Sondersendung zur Rückkehr der Polarforscher

    Radio Bremen begleitet die Rückkehr der "Polarstern" und berichtet über den Verlauf der Expedition. Dabei kommen Vertreter aus Wissenschaft und Politik zu Wort.

  • Mitschnitt des Pressegespräch zur Mosaic-Expedition

    Ein Jahr lang war das Forschungsschiff "Polarstern" am Nordpol unterwegs. Nach der Rückkehr berichten die Beteiligten nun von der Mosaic-Expedition.

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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 12. Oktober 2020, 19.30 Uhr

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