Interview

Bremer Jude: "Wir erleben gerade, wie sich Pogrom-Stimmung anfühlt"

Passanten vor einer zerstörten Fensterfront eines jüdischen Geschäft (Archivbild)

"Unser Leben hat sich komplett geändert": Bremer Jude zu Krieg in Gaza

Bild: dpa | Keystone/SRT

Deutschland gedenkt heute der Opfer der Reichspogromnacht. Judenfeindliche Straftaten haben zuletzt zugenommen. Ein Bremer Jude beschreibt die Stimmung in der Gemeinschaft.

85 Jahre ist es her, da töteten, misshandelten und vergewaltigten viele Menschen im gesamten Deutschen Reich gemeinsam jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, brannten Synagogen nieder, zerstörten jüdische Geschäfte und Wohnungen. Nicht nur Nazis, von denen der Terror ausgegangen war, waren an den Gewalttaten der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 beteiligt, sondern auch unparteiliche Frauen und Männer aus der Nachbarschaft sowie Schulklassen.

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober, doch auch schon davor, kommt es in Deutschland wieder vermehrt zu judenfeindlichen Straftaten. Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich bedroht. Der Bremer Jude Daniel Uschpol spricht von einer "Pogrom-Stimmung".

Herr Uschpol, seit den Terrorangriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober kommt es offenbar auch in Bremen und Niedersachsen vermehrt zu antisemitischen Straftaten. Was löst das für Gefühle in Ihnen aus?

Das beunruhigt mich sehr. Es bestätigt eine Befürchtung, die die jüdische Community in Deutschland, aber auch weltweit immer wieder äußert: Sobald es im Nahen Osten zu Unruhen kommt, bekommt weltweit die gesamte jüdische Community die Folgen zu spüren. Die Bedrohung ist zur Zeit so groß, wie ich es noch nie erlebt habe. Das beunruhigt mich auch deshalb sehr, weil wir nicht wissen, wie lang das anhalten wird, und was der Endpunkt sein wird: Haben wir den Höhepunkt schon erreicht, oder kommt der Höhepunkt erst noch?

Wie hat sich Ihr Leben sowie das anderer Jüdinnen und Juden in Deutschland durch den Krieg in Gaza verändert?

Unser Leben hat sich komplett geändert. Wir haben so eine Stimmung noch nie erlebt. Es gibt aktuell eine Pogrom-Stimmung. Das jüdische Leben stand schon vorher immer irgendwie unter Druck. Sei es infolge des rechtsextremen Antisemitismus, sei es infolge des islamistischen Antisemitismus oder auch infolge des Antisemitismus aus der bürgerlichen Mitte. Wir waren schon immer von Antisemitismus betroffen. Gerade in Deutschland war es nie normal, jüdisch zu sein.

Trotzdem haben wir versucht, unsere Räume zu finden und unsere Stimmen zu finden. Aber das ist aktuell nicht mehr möglich. Wir haben uns völlig zurückgezogen. Weil wir Angst haben, und weil es eine konkrete Gefahrenlage gibt.

Am Himmel über der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen sind Raketen zu sehen, die aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert wurden
Raketen der Hamas schlagen am 8. Oktober in der israelischen Stadt Rafah ein. Bild: dpa | Xinhua News Agency/Khaled Omar

Wovor haben Sie in diesem Zusammenhang am meisten Angst?

Am meisten Angst habe ich vor weiteren Höhepunkten, die das Ganze erreicht. Vor wenigen Tagen ist eine jüdische Frau im französischen Lyon in ihrem Haus niedergestochen worden. Der Täter hat auch ein Hakenkreuz an ihre Tür gesprüht. Wir erleben gerade, wie sich Pogrom-Stimmung anfühlt. Ich habe am meisten Angst vor dem, was noch kommt.

Die Zahl der antisemitischen Straftaten war schon vor den Terrorangriffen vom 7. Oktober deutlich gestiegen. Laut Bundesregierung gab es 540 antisemitische Straftaten allein im dritten Quartal dieses Jahres. Zum Vergleich: Im dritten Quartal des Jahres 2022 waren es "nur" 306. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?

Es hängt, glaube ich, damit zusammen, dass wir uns seit Jahren von Krise zu Krise hangeln. In solchen Zeiten werden Menschen unsicher und Gesellschaften verlieren an Stabilität. Wenn das passiert, dann trifft es fast immer zuerst die Juden. Der Antisemitismus war nie weg in den Bevölkerungen. Er war immer da, hat vielleicht unter einer zivilisatorischen Decke geschlummert. Dann hatten wir in den letzten Jahren Preissteigerungen, den Krieg und die Klimakrise – und natürlich Corona. Die Coronakrise hat viele Menschen im verschwörungsideologischen Umfeld mobilisiert. Antisemitische Verschwörungstheorien sind quasi der Ursprung der Verschwörung.

All diese Entwicklungen der letzten Jahre zusammen haben dazu geführt, dass die Menschen nach einem Sündenbock suchen. Und wie schon so oft in der Geschichte, ist dieser Sündenbock eben der Jude.

Auf einer anti-Israelischen Demo wird die Flagge Israels verbrannt und getreten (Archivbild)
Auf einer anti-israelischen Demo im Oktober verbrennen Demonstranten eine israelische Flagge. Bild: dpa | Zuma Press/David Canales

Was müsste die Politik, was unsere Gesellschaft unternehmen, damit Sie und andere Jüdinnen und Juden sich wieder wohler in Deutschland fühlen?

Als erstes müssten die Strafverfolgungsbehörden die Straftaten, die gerade fast überall zu beobachten sind, entschieden verfolgen. Es kann nicht sein, dass bei Demonstrationen in Deutschland das schwarze Banner des IS weht (eine Flagge, die von islamischen Terrororganisationen benutzt wird, die Redaktion) – und nichts passiert. Es kann nicht sein, dass bei einer Demonstration in Deutschland in arabischer Sprache zum Völkermord an Juden aufgerufen wird – und es passiert nichts, weil die Polizei nicht genügend Kräfte hat oder Übersetzer, die überhaupt verstehen, was da gesagt wird.

Es kann nicht sein, dass bei einer Demonstration Terror, ein Massaker gefeiert wird, dass der Hass auf Juden öffentlich zelebriert wird – und nichts passiert. Das darf nicht so weiter gehen. Sonst glauben diese Menschen, dass das okay ist, was sie da sagen. Dadurch normalisiert man das Ganze und mobilisiert noch mehr Menschen, die sich anschließen.

Als nächstes muss die Gesellschaft Solidarität mit jüdischen Menschen in Deutschland zeigen, nicht nur mit Israel. Wir wollen einfach ein friedliches Leben leben. Wir feiern keine Gewalt. Wir freuen uns nicht über das, was im Nahen Osten passiert. Das ist absolut furchtbar und schrecklich. Die Leute müssen uns einfach mehr zuhören. Es gibt immer noch viel zu viele Fälle, in denen die Menschen Antisemitismus relativieren. Es wird den Juden abgesprochen, was ihnen widerfährt. So war das auch nach dem Holocaust. Das wiederholt sich gerade. Die Gesellschaft muss sich aktiv mit dem Thema Antisemitismus auseinandersetzen, muss sich dazu auch weiterbilden, um überhaupt zu begreifen, was alles antisemitisch ist.

Fällt Ihnen ein Beispiel für etwas Antisemitisches ein, das viele Menschen nicht als antisemitisch erkennen?

Die Parole "Kindermörder Israel", die man gerade auf vielen palästinensischen Demonstrationen hören kann. Das ist nicht einfach eine neutrale Beschreibung dafür, dass in dem aktuellen Konflikt viele Kinder sterben. Es geht darum, dass man dem einzigen existierenden jüdischen Staat unterstellt, dass er ganz gezielt Kinder ermorde. Das geht zurück auf eine verleumderische Ritualmordlegende. Danach ermorden Juden Kinder, um mit ihrem Blut Brot zu backen.

Sowas sind alte Verleumdungen, die in unserer Geschichte immer wieder benutzt wurden. Damit wird versucht, die Wahrnehmung der Menschen zu manipulieren, zum Schaden der Juden. Wir verstehen diese Codes. Gleichzeitig haben wir das Gefühl: Die Mehrheit versteht das Hinterhältige, Verleumderische daran nicht, weil sie zu wenig über Antisemitismus weiß.

Im Landkreis Stendal in Sachsen-Anhalt soll demnächst eine Kita namens "Anne Frank" in "Weltentdecker" umbenannt werden. Denn viele Kinder, gerade solche mit Migrationshintergrund, könnten mit dem Namen der berühmten jüdischen Tagebuchautorin nichts anfangen, so das Argument. Was sagen Sie dazu?

Das ist eine abenteuerliche Erklärung. Anne Frank ist eine zentrale Figur in der deutschen Geschichte. Jeder in unserer Gesellschaft, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, sollte diese deutsche Geschichte kennenlernen. Dafür muss man die Erinnerung lebendig halten – und nicht glätten.

So fühlt sich ein Bremer Jude in Deutschland: "Auch ich habe Angst"

Bild: Radio Bremen

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Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Rundschau am Morgen, 9. November 2023, 7 Uhr