Interview

Verhalten wir uns im Straßenverkehr wie Rowdys? Ein Experte klärt auf

Nach Fahrradunfall: Brief eines Bremer 4-Jährigen geht viral

Bild: dpa | Andrea Warnecke

Mit dem Rad, Auto oder zu Fuß: Auch im Straßenverkehr in Bremen kommt es immer wieder zu Streit. Neigen wir zu rücksichtslosem Verhalten? Ein Bremer Verkehrsexperte gibt Antworten.

Nachdem ein Radfahrer einen 4-jährigen Jungen in Bremen angefahren und Fahrerflucht begangen hat, ist die öffentliche Empörung groß. Auf Instagram erhielt der Brief des Jungen an den Unbekannten viel Zuspruch – doch auch das Unverständnis ist groß: Wie kann ein Radfahrer so rücksichtslos handeln? Antworten auf diese Frage gibt der Bremer Verkehrsexperte Carsten-Wilm Müller. Und er erklärt, was aus seiner Sicht notwendig wäre, damit wir im Straßenverkehr weniger egoistisch handeln.

Halten sich Radfahrer weniger an die Verkehrsregeln als andere Verkehrsteilnehmer, Herr Müller?

Hierzu gibt es keine eindeutigen Zahlen, aber natürlich beschäftigt das Thema auch die Wissenschaft.

Der Professor für Verkehrswesen Carsten-Wilm Müller im Interview bei buten un binnen.
Ist Experte für Verkehr: Der frühere Professor der Hochschule Bremen, Carsten-Wilm Müller. Bild: Radio Bremen

Warum wird das dann oft so wahrgenommen?

Wichtig ist erst einmal festzuhalten, dass das kein reines Straßenverkehrsordnungsthema ist, sondern auch ein gesellschaftliches. Aus meiner Sicht spielt die starke Individualisierung unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle dabei. Die ungebrochene Priorität des Autos ist am Bröckeln. Das macht nicht nur etwas mit unserer Gesellschaft, sondern auch mit der Verkehrsstruktur.

Wie zeigt sich das?

Die Mobilität nimmt ganz eindeutig zu. Laut dem ADAC-Mobilitätsreport ist der Personenverkehr in der Bundesrepublik seit dem Jahr 2000 um elf Prozent gestiegen und wird aller Voraussicht nach weiterhin steigen. Wir haben uns an die Mobilität gewöhnt und vor allem auch an das Rad. Man ist mit dem Fahrrad insbesondere in Großstädten schnell unterwegs. Gerade jüngere Menschen zwischen 17 und 40 Jahren steigen vermehrt aufs Rad. Ältere sind hier eher vorsichtiger. Regionale Unterschiede zwischen Stadt und Land existieren trotzdem.

Welche Gründe könnte es dafür geben, dass Radfahrer sich vermeintlich weniger an Verkehrsregeln halten?

Man ist auf dem Rad wie der Blitz weg. Es ist praktisch unmöglich, das nachzuverfolgen. Die Mobilität, die man auf dem Fahrrad hat, könnte dazu verleiten, sich verantwortungsloser zu verhalten. Dazu kommt noch, dass ich als Radfahrer besser höre und sehe. Das verleitet dann möglicherweise eher dazu, bei Rot zu fahren, wenn gerade niemand kommt. Die Folge ist das risikobehaftete Fahrverhalten. Hierbei handelt es sich um eine punktuelle Wahrnehmung.

Vielen Radfahrern scheint zudem nicht bewusst zu sein, dass die Straßenverkehrsordnung genauso für sie gilt und ähnliche Konsequenzen hat wie Fehlverhalten im Auto. Und die Infrastruktur für das Fahrrad entspricht nicht überall dem, was angemessen wäre. Dadurch verhält man sich möglicherweise rowdyhafter.

Wird aus Ihrer Sicht anderen Verkehrsteilnehmern wie Autofahrern oder Rollernutzern ebenso häufig verkehrswidriges Verhalten unterstellt wie Radfahrern?

Ja, das würde ich so unterschreiben. Gerade bei Autos wird dabei ja häufig auf die Auto-Poser-Szene verwiesen.

Wir alle sollten im Straßenverkehr mehr aufeinander
Acht geben und weniger nur unseren eigenen kurzfristigen Vorteil sehen.

Der Vekehrsexperte Carsten Wilm Müller im buten un binnen Studio.
Prof. Dr.-Ing. Carsten-Wilm Müller im Interview

Wo sehen Sie Handlungsbedarf oder Möglichkeiten, was die verhärteten Fronten im Straßenverkehr angeht?

Es gab in Bremen ja zuletzt mehrere Versuche, dem Rad mehr Raum zu geben. Zu nennen ist die Martinistraße. Aber das kam leider rüber wie eine "Jetzt-sind-wir-dran"-Mentalität. Ich denke, wir und auch die Politik müssten insgesamt mit mehr Achtsamkeit vorgehen. Politisch sollte viel mehr erklärt und weniger mit der Brechstange vorgegangen werden. Die Menschen müssen abgeholt und mit eingebunden werden. Dabei sollten wir auf alle, also Fußgänger, Autofahrer und Radfahrer achten.

Letztendlich kann die Politik bei möglichen Fahrrad-Rowdys aber auch nicht viel machen. Das muss von uns Menschen kommen. Wir alle sollten im Straßenverkehr mehr aufeinander Acht geben und weniger nur unseren eigenen kurzfristigen Vorteil sehen.

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Autorin

  • Autorin
    Alina Fischer Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 6. Oktober 2023, 19:30 Uhr