50 Jahre Radikalenerlass: Wie ein Bremer Zeitzeuge an Schulen aufklärt

Im Zuge des Radikalenerlasses mussten 1972 viele Beamte um ihre Jobs bangen. So auch Kalle Koke. Heute ist er als Zeitzeuge an Bremer Schulen unterwegs.

Am 28. Januar 1972 beschließen Bund und Länder den sogenannten Radikalenerlass. Infolgedessen werden mehrere Hundert Berufsverbote gegen Menschen mit vermeintlich verfassungsfeindlicher Gesinnung ausgesprochen. Für Bremen gibt es keine offiziellen Zahlen, Karlheinz Koke, der selbst betroffen ist, schätzt sie auf 39. Im Visier: Kommunisten, Rechtsradikale, Gewerkschafter und Mitglieder linker Studentengruppen.

Karlheinz "Kalle" Koke will 1974 eigentlich Lehrer werden, doch ist nebenbei auch Mitglied im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Schon damals ist ihm klar, dass er deshalb Probleme bekommen könnte: "Ich kann mich noch genau an den Abend und die Nacht erinnern als der Radikalenerlass beschlossen wurde. Ich wusste genau, dass mich das auch treffen könnte", erinnert sich der 78-Jährige heute.

Kalle Koke bei einer Demonstration der DGB am
Kalle Koke bei der 1. Mai Demonstration 1976. Bild: Kalle Koke

Trotzdem tritt der studierte Germanist im Juni 1974 seine Probezeit als Lehrer am Alten Gymnasium in Schwachhausen an. Auch, weil er es ein Stück weit besser machen wollte als die Lehrer in seiner Schulzeit: "Viele waren vom Krieg gezeichnet und hatten ihre nationalsozialistischen Ideologien noch nicht abgelegt. Genau so wollte ich nicht unterrichten", erzählt er.

Überraschung nach jahrelanger Ungewissheit

Es kommt wie erwartet: Nach einem Jahr in der Probezeit wird Koke im Juni 1975 vom Oberschulrat zum sogenannten Dienstgespräch gebeten und soll sich dort für seine Mitgliedschaft im KBW rechtfertigen. Seine eigentlich bevorstehende Verbeamtung wird aufgeschoben. Der Vorwurf damals: Kokes Ansichten seien nicht mit der Verfassung vereinbar. Dies hätte sich anhand einiger Beweise ergeben, die zum Teil auf fragwürdige Art beschafft worden sind, berichtet Koke: "Ein Schüler hat damals im Unterricht sogar ein Tonband mitlaufen lassen, um zu beweisen, dass ich die Schüler indoktriniere. Natürlich auf Anweisung seiner Eltern, nehme ich an."

Ein Schüler hat im Unterricht sogar ein Tonband mitlaufen lassen, um zu beweisen, dass ich die Schüler indoktriniere.

Kalle Koke, Betroffener des Radikalenerlasses

Es wird in dieser Zeit immer aussichtsloser für Koke, zwischenzeitlich rechnet er sogar fest mit einer Entlassung: "Nach jeden Sommerferien hatte ich eine Klasse weniger zu unterrichten und habe so immer weniger gearbeitet", erzählt er. Jahrelang wird seine Probezeit halbjährlich verlängert, jahrelang ist seine Zukunft ungewiss, doch er bleibt weiter Mitglied in Partei und Gewerkschaft.

Bei einigen Schülern, Lehrern und Eltern macht sich mit der Zeit jedoch Unmut breit. Sie protestieren und fordern mit "Koke soll Lehrer bleiben" die sofortige Verbeamtung Kokes. Trotzdem macht sich der Deutsch-Lehrer wenig Hoffnung und plant schon andere Lebenswege. Doch im Juli 1979 kommt plötzlich die Überraschung.

Aufarbeitung und Theaterstück

Aus den Akten auf die Bühne: Lesung „Staatsschutz, Treuepflicht, Berufsverbot“ der Bremer Shakespeare Company
Aus den Akten auf die Bühne: Lesung „Staatsschutz, Treuepflicht, Berufsverbot“ der Bremer Shakespeare Company. Bild: Radio Bremen

Fünf Jahre nach Start der Probezeit wird Koke Ende Juli 1979 unerwartet zum Studienrat verbeamtet und arbeitet von da an 14 Jahre als Lehrer am Alten Gymnasium in Schwachhausen. "Ich hatte Glück, dass ich dort unterrichtet habe", erinnert er sich: "Die Schule genoss ein hohes Ansehen und hatte einflussreiche Eltern. An jeder anderen Schule wäre ich rausgeflogen".

Trotz des am Ende glimpflichen Ausgangs, lassen ihn die Berufsverbote nicht los. Auch Jahre später beschäftigt er sich weiter mit ihnen und arbeitet in seinem Ruhestand zusammen mit Studierenden der Uni Bremen über 60 Fälle akribisch durch. In Kooperation mit der GEW und dem Theaterkollektiv "bremer shakespeare company" wird das Thema außerdem als szenische Lesung auf die Bühne gebracht und im Theater am Leibnizplatz aufgeführt.

Schulbesuche machen deutlich: Thema ist brandaktuell

Einen Tag nach der Aufführung ist Koke beim Geschichts-Leistungskurs von Werner Pfau in der Schule am Rübekamp zu Gast. Auch sie hatten die Lesung besucht und besprechen das Thema im Unterricht. Als Koke den Raum betritt und vor der Klasse am Lehrerpult Platz nimmt, ist er direkt in seiner alten Rolle. Detailliert berichtet er von seinen Erlebnissen, reicht Fotos herum und verliest originale Dokumente wie das Protokoll des verordneten Dienstgesprächs. Zwischenzeitlich schweift der 78-Jährige ab, wird jedoch durch gezielte Fragen der Schüler immer wieder zurück zu seiner Geschichte gebracht.

Zeitzeuge Kalle Koke spricht am Schulzentrum Rübekamp über den Radikalenerlass
Zeitzeuge Kalle Koke spricht am Schulzentrum Rübekamp über seine Erfahrungen mit dem Radikalenerlass. Bild: Radio Bremen

Gegen Ende bestimmen dann vor allem aktuelle Fragen die Diskussion: Ist es heute noch in Ordnung, Berufsverbote für Extremisten auszusprechen? Darf Björn Höcke an Schulen unterrichten oder Jens Maier Richter sein, obwohl beide AfD-Politiker vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft werden?

Die Meinungen dazu sind zum Teil unterschiedlich, in einer Sache sind sich Kalle Koke und die Schüler allerdings einig: "Extremisten sollten auf gar keinen Fall im öffentlichen Dienst arbeiten dürfen und müssen in Einzelfällen überprüft werden. Der Radikalenerlass und die grundsätzliche Überprüfung aller ist dafür aber der falsche Weg."

Autor

  • Frederick Dumke
    Frederick Dumke Autor

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 28. Januar 2022, 19:30 Uhr