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Gladbeck: Wie das Geiseldrama eskalierte

Die Geiselnahme von Gladbeck erschütterte im August 1988 die Bundesrepublik. Was ist damals genau passiert? Beteiligte sprachen mit uns über die Tat.

In unserer Karte sind die Ereignisse des Geiseldramas verzeichnet A3 bei Bad Honnef 7 Köln 6 Niederlande 5 Rasthof Grundbergsee 4 Bremen / Vegesack 2 Bremen / Huckelriede 3 Gladbeck 1 18.08.1988 - A3 bei Bad Honnef Der Tod der 18-jährigen Silke Bischoff 18.08.1988 - Köln Pressemeute in der Fußgängerzone 18.08.1988 - Niederlande Freiheit für Johnny Bastiampillai und andere Geiseln 17.08.1988 - Rasthof Grundbergsee Der 14-jährige Emanuele Di Giorgi verblutet 17.08.1988 - Bremen Huckelriede Ein Bus und 32 Geiseln 17.08.1988 - Bremen Vegesack Beginn eines Polizeiversagens 16.08.1988 - Gladbeck Zwei Berufsverbrecher und kein Plan
Bild: Radio Bremen

Im Mittelpunkt standen die zwei Verbrecher Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner. Polizei und Presse wurden im Nachhinein Versagen vorgeworfen. Opfer und Beteiligte, die in Bremen in die Ereignisse hineingezogen wurden, erinnern sich 30 Jahre später an die Tat – und den Tod zweier Geiseln, die in Huckelriede einfach nur in den falschen Bus gestiegen waren.

Gladbeck – Zwei Berufsverbrecher und kein Plan

Es ist der 16. August 1988, morgens um fünf vor acht. Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski stehen mit gezogenen Pistolen an einem Bankschalter im Gladbecker Stadtteil Rentfort-Nord. Verbrechen sind ihr Beruf.

Der 32-jährige Degowski war schon als Kind durch Diebstähle aufgefallen. Auf der Sonderschule hat er seinen jüngeren Kumpel Rösner kennengelernt. Mit dem 31-Jährigen hat er bereits mehrere Gaststätten und Geschäfte ausgeraubt. Bis zu diesem Tag hat Rösner elf Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht. Seit zwei Jahren ist er auf der Flucht, nachdem er von einem Hafturlaub nicht zurückgekehrt war.

Mitarbeiter des Sondereinsatzkommandos steigen mit einer Leiter in die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck ein
Polizisten sichern das Obergeschoss der Bankfiliale, in der Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner am 16. August zwei Geiseln festhalten. Bild: Imago | Bonn-Sequenz

Der Banküberfall am 16. August läuft für die zwei Berufsverbrecher zunächst gut. Mit 120.000 Mark verlassen sie die Filiale. Dann jedoch sehen sie einen Streifenwagen vor dem Gebäude. Kurzum entscheiden sie, zwei Bankangestellte als Geiseln zu nehmen. Verhandlungen beginnen. Zwischendurch telefoniert Rösner mit einem Journalisten, der in der Filiale anruft. Am Abend gewährt die Polizei den Bankräubern beobachtungsfreien Abzug mit zwei Geiseln in einem Fluchtauto und 300.000 Mark Lösegeld.

Als Reporter den Verbrechern jedoch folgen, sehen Rösner und Degowski sich von der Polizei getäuscht. Ein dreitägiges Katz-und-Maus-Spiel beginnt – verfolgt von Millionen Menschen, denn die Presse ist immer mit dabei. Für die Interviews mit den Verbrechern schalten bis zu 13 Millionen Zuschauer die Tagesschau ein. Später wurde diese Art der Berichterstattung scharf kritisiert, im Pressekodex ein eigener Passus für den Umgang mit Gewalttaten festgelegt.

So berichteten die Medien:

Bild: Radio Bremen

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Bremen, Vegesack – Beginn eines Polizeiversagens

Die Polizei hört im verwanzten Fluchtwagen mit, als die Geiselnehmer in den Morgenstunden des 17. Augusts beschließen: "Nichts wie ab in Richtung Bremen!". Grund des Reiseziels: Rösners Freundin Marion Löblich – sie ist vom Bankräuberduo in der Nacht zu Hause abgeholt worden – kennt die Hansestadt. Die 35-Jährige besuchte dort als Jugendliche die Sonderschule. Sie hat noch immer Verwandte hier. Auch die Schwester Rösners hat eine Zeit lang in Bremen gewohnt. Das Trio erreicht am Nachmittag des 17. Augusts den Bremer Stadtteil Vegesack.

Rösner und Löblich bummeln durch die Fußgängerzone und kaufen Kleider, während Degowski im Fluchtauto die Geiseln bewachen soll. Betrunken und übermüdet schläft er dabei kurz ein, während seine Waffe auf der Mittelkonsole des Autos liegt. Ein Sonderkommando der Bremer Polizei greift dennoch nicht zu. Denn die Einsatzleitung in Nordrhein-Westfalen, die per Wanze im Auto mithört, gibt keinen Befehl.

Ein Untersuchungsausschuss, der noch im selben Jahr von der Bremer Bürgerschaft einberufen wird, legt diese erste bedeutsame Polizeipanne ebenso offen wie die weiteren, die in den kommenden Stunden folgen. Bremens sozialdemokratischer Innensenator Bernd Meyer tritt daraufhin zurück.

Martin Thomas vom Untersuchungsausschuß über das Polizeiversagen:

Bild: Radio Bremen | Lür Wangenheim

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Bremen, Huckelriede – Ein Bus und 32 Geiseln

Als das Verbrechertrio in Bremen Nord keinen Leihwagen bekommt, weil dem Autovermieter, wie er später zu Protokoll gibt, "die Angelegenheit komisch vorgekommen" sei, fahren sie mit dem bisherigen Fluchtwagen weiter nach Huckelriede. Dort fällt ihnen gegen 19 Uhr jedoch ein Polizeiwagen auf. Daraufhin verlassen sie ihr Auto, geben Warnschüsse ab und rennen mit ihren zwei Geiseln zu einem Bus der Linie 53, der am ZOB in Huckelriede steht. An Bord: der Busfahrer und 29 Fahrgäste.

Die Polizei schaut zu. Rösner winkt stattdessen den Pressefotografen Peter Meyer zu sich. "Er hat zwar eine Waffe in der Hand, aber warum soll er mich umbringen?", erinnert dieser sich rückblickend an seine damaligen Gedanken. So entscheidet er damals: "Ja gut, mal gucken, was er will."

Hans-Jürgen Rösner steht in einem gekaperten Linienbus in Bremen
Hans-Jürgen Rösner steht zwischen seinen Geiseln im Bus der Linie 53 am ZOB in Huckelriede. Bild: dpa/AP Images

Der Fotograf wird zum Vermittler. Auf einer Seite die passive Polizei, auf der anderen zwei übermüdete Gewaltverbrecher, die zwischen Presseinterviews und Tobsuchtsanfällen wandeln – und Geiseln wie der neunjährigen Tatiana De Giorgi. Ihr hält Rösner eine Pistole an den Kopf und brüllt: "Wenn jetzt keiner kommt, knall ich sie weg!"

Als Peter Meyer schließlich sein Autotelefon bereitstellt und die Nummer der Verhandlungsgruppe der Polizei organisiert, gibt es Hoffnung. Doch die Telefonnummer führt ins Nichts. Niemand geht ran. Degowski und Rösner haben genug. Der Bus fährt ab.

Noch heute blickt der inzwischen 68-jährige Fotograf verwundert darauf zurück, was in diesen Stunden passierte.

Der Fotograf Peter Meyer über die Passivität der Polizei:

Bild: Radio Bremen | Lür Wangenheim

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A1 am Rasthof Grundbergsee – Der 14-jährige Emanuele De Giorgi verblutet

Die Familie von Tatiana und Emanuele De Giorgi macht sich am Abend des 17. Augusts Sorgen, wo ihre zwei Kinder bleiben. Als Tatianas Bruder Fabio den Fernseher anmacht, sieht er, wie ein Mann in einem Bus seiner Schwester eine Pistole an den Kopf hält und ruft sofort seine Mutter: "Mama, da ist was passiert!"

Emanuele De Giorgi
Emanuele De Giorgi rettete seine Schwester Tatiana. Zu seiner Trauerfeier in Italien kamen 25.000 Gäste. Bild: Radio Bremen | Lür Wangenheim

Mit 32 Geiseln in einem Linienbus macht sich das Verbrechertrio um Dieter Degowski, Hans-Jürgen Rösner und Marion Löblich am späten Abend von Bremen auf in Richtung Hamburg. Auf der A1 werden sie von Polizei und Presse verfolgt. Nach einer halben Stunde Fahrt halten sie zum Tanken an der Raststätte Grundbergsee. Dort wird Marion Löblich bei einem Toilettengang eigenmächtig von Polizisten verhaftet. "Das hätten die Bullen nicht machen sollen", brüllt Rösner. Und Degowski gibt der Polizei fünf Minuten, sie wieder freizulassen.

Doch Löblich befindet sich bereits viele hundert Meter entfernt am anderen Ende des Rasthofs. Beim Versuch, ihre Handschellen zu öffnen, bricht auch noch der Schlüssel ab. Die Zeit verstreicht. Um 22.30 Uhr schießt Degowski dem 14-jährigen Emanuele De Giorgi in den Kopf, nachdem dieser sich schützend vor seine neunjährige Schwester Tatiana gebeugt hat. Kein Krankenwagen steht bereit. Der Junge verblutet schließlich.

Am frühen Abend hatte er seine Schwester zufällig im Bus gesehen und war zugestiegen. Tatiana war gerade vom nachmittäglichen Italienisch-Unterricht auf dem Weg nach Hause. Die Familie kam einst aus Italien nach Bremen, weil Vater Aldo hier Arbeit gefunden hatte. Kurz nach dem Drama ziehen die De Giorgis zurück in ihre alte Heimat. Vor allem Mutter Giuseppina erträgt das Leben in Bremen nicht mehr. Schwester Tatiana ist heute 39 Jahre alt, verheiratet und hat vier Kinder. Nach Bremen ist sie nie mehr zurückgekehrt.

Die Schwester des Opfers, Tatiana Agrimi, vermisst ihren Bruder:

Bild: Radio Bremen | Lür Wangenheim

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Niederländisches Grenzgebiet – Freiheit für Johnny Bastiampillai und andere Geiseln

Nach dem Tod Emanuele De Giorgis am Rasthof Grundbergsee steuern die Geiselnehmer mit ihrem Linienbus in Richtung niederländische Grenze. Bei der Verfolgung kollidiert ein Polizeiwagen mit einem Lkw. Ein Polizist stirbt.

Am 18. August um 2:30 Uhr in der Nacht überqueren Verbrecher und Geiseln die niederländische Grenze bei Bad Bentheim. Zweidreiviertel Stunden später werden in Oldenzaal zwei Frauen und drei Kinder freigelassen, nachdem die niederländische Polizei dies zur Voraussetzung für Verhandlungen gemacht hat. Als die Polizei den Entführern den gewünschten BMW 735i als Fluchtwagen zur Verfügung stellt, kommen fast alle Geiseln frei.

Auch für den erst siebenjährigen Johnny Bastiampillai, seine Mutter und seine Cousine endet die Odyssee. Die Familie war erst kurz zuvor aus Sri Lanka geflüchtet. Dort herrschte Bürgerkrieg. In Bremen kamen die drei Flüchtlinge bei Onkel und Tante unter. Dorthin waren sie tags zuvor auch unterwegs, als sie in Huckelriede die Straßenbahn nehmen wollten. Diese war jedoch ausgefallen. Johnnys Mutter wollte stattdessen die Buslinie 51 nehmen, doch die Kinder liefen vor und stiegen in die 53 ein, die dann von Degowski, Rösner und Löblich gekapert wurde.

Johnny Bastiampillai über die Folgen der Geiselnahme für sich und seine Familie:

Bild: Radio Bremen

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Köln, Innenstadt – Pressemeute in der Fußgängerzone

Nach der Freilassung fast aller Geiseln in den Niederlanden setzt das Verbrechertrio um Degowski, Rösner und Löblich am 18. August die Flucht in einem von der holländischen Polizei bereitgestellten BMW fort. Zwei Geiseln haben sie noch immer in ihrer Gewalt – Ines Voitle und Silke Bischoff.

Mit einer Waffe in der Hand fordert der am Steuer des Fluchtfahrzeugs sitzende Hans-Jürgen Rösner umstehende Journalisten und Passanten auf, den Weg frei zu machen.
Hans-Jürgen Rösner fordert die umstehenden Journalisten und Passanten auf, den Weg durch die Kölner Fußgängerzone frei zu machen. Bild: dpa | Hartmut Reeh

Beide hatten am Abend der Busentführung am ZOB Huckelriede eigentlich einen Videofilm schauen wollen, bei Silke Bischoff zu Hause in Kattenesch. Dort lebte die 18-Jährige bei ihren Großeltern, während sie sich am Amtsgericht Bremen zur Staatsanwaltsgehilfin ausbilden ließ. In Zimmer 245, Abteilung Zivilsachen, schrieb sie Protokolle und sortierte Akten.

Nach Köln geht die Fahrt, da Rösner, wie er später sagen wird, den Dom sehen will. In der Fußgängerzone wird der Fluchtwagen schließlich von Passanten und Journalisten umlagert. Letztere bieten sich als Lotsen an und zeigen den Geiselnehmern Fotos von Polizisten. "Ey, pass auf, das ist ein Bulle!", gehört zu den Sätzen, die Journalisten den Verbrechern in dieser Situation zurufen, erinnert sich der damals stellvertretene Einsatzleiter Winrich Granitzka. Ein anderer Ausruf: "Halt' ihr noch mal die Knarre an den Kopf, ich hab das Bild noch nicht."

Köln markiert zwar den Höhepunkt der Zurschaustellung der Geiseln. Ihren Anfang hat diese Entwicklung jedoch bereits in Bremen Huckelriede und auf dem Rasthof Grundbergsee genommen.

Die Zurschaustellung der Geiseln in den Medien erreicht ihren Höhepunkt:

Bild: dpa | Carsten Rehder

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A3 bei Bad Honnef – Der Tod der 18-jährigen Silke Bischoff

Am 18. August gegen 12 Uhr verlassen Degowski, Rösner und Löblich mit ihren zwei Geiseln Köln und fahren auf die A3 in Richtung Frankfurt. Als ihr Fluchtwagen – von der Polizei zuvor mit einer Motorfernabschaltung präpariert – auf dem Seitenstreifen ausrollt, beginnt Silke Bischoff zu schreien. "Spring raus! Spring raus! Spring raus!", habe ihre Freundin immer wiederholt, erinnert sich Ines Voitle später. "Irgendwann habe ich es dann einfach gemacht." So rettet sie sich in einen Graben am Straßenrand.

Die Polizei feuert daraufhin 62 Schüsse auf den Wagen ab. Silke Bischoff stirbt durch einen Schuss aus der Waffe Hans-Jürgen Rösners. Ob gezielt oder aus Versehen, bleibt ungeklärt.

Ines Voitle erfährt erst am Tag darauf, was geschehen ist. Auf die Frage, wie es Silke gehe, habe ein Polizist ihr schlicht geantwortet: "Die ist tot."

Karin R., die Mutter von Silke Bischoff, berichtet über ihr Leben nach der Tat:

Bild: Radio Bremen | Lür Wangenheim

Das Verfahren am Landgericht Essen, in dem die Geiselnehmer verurteilt werden, zieht sich über 109 Prozesstage hin. Knapp 200 Zeugen und zahlreiche Gutachter kommen zu Wort. Die Beschuldigten verzichten auf ein Schlusswort. Das Urteil "lebenslänglich" nehmen Rösner und Degowski am 22. März 1991 gefasst hin. Marion Löblich weint, als sie zu neun Jahren Haft verurteilt wird.

Nach sechs Jahren Haft kommt die Freundin Rösners jedoch wegen guter Führung frei. Am 15. Februar 2018 wird auch Dieter Degowski aus der Haftanstalt Werl entlassen. Er hat seine Mindeststrafe abgesessen, und die Prognose für seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft ist günstig. Er lebt jetzt unter neuer Identität. Immer noch in Haft sitzt Hans-Jürgen Rösner. Zwischenzeitlich wegen Heroin-Besitzes im Gefängnis zu einer neuerlichen Strafe verurteilt, inzwischen inhaftiert in der Justizvollzugsanstalt Aachen. Dort hat er im November 2017, rund drei Jahrzehnte nach der Tat, eine Therapie begonnen.

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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 7. März 2018, 19:30 Uhr