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"Zur Gerechtigkeit beitragen": Wie ukrainische Journalisten arbeiten

Moderator in einem TV-Stduio in Kiew
In diesem Fernsehstudio in Kiew wird rund um die Uhr über die aktuelle Lage berichtet. Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

Am 24. Februar 2022 wurden die Sendepläne aller ukrainischen Fernsehsender bedeutungslos. Panik und Angst waren allgegenwärtig: Die Menschen brauchten nicht nur zeitnahe und objektive Informationen über den Krieg, sondern auch moralischen Beistand und Experten, die  Falschmeldungen widerlegen. So entstand der Bedarf an Informationen rund um die Uhr. Da dies für einen einzelnen Fernsehsender sehr schwierig ist, wurde ein gemeinsamer "TV-Marathon" beschlossen. Dabei "wachte" jedes Medienunternehmen mit einer Schicht über jeweils fünf bis sechs Stunden über die Lage im Land.

Die buten-un-binnen-Journalistin Anna Chaika ist nach Kiew gefahren. Dort sprach sie mit ukrainischen Reportern über ihre Arbeit im Krieg. Darüber, wie sich dies auf ihre Psyche auswirkt und wie sie damit umgehen.

Arbeiten "bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten"

Anna Chaika mit Serhiy Malnev in Kiew
buten-un-binnen-Reporterin Anna Chaika mit Serhiy Malnev in Kiew. Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

Die Veränderungen sind nicht zu übersehen: Leere und dunkle Korridore, eine stille Redaktion, in der nur ein paar Leute sitzen. Die Kantine ist geschlossene. Viele Medienschaffende haben wegen des Krieges ihre Arbeit verloren. Und diejenigen, die noch weiterarbeiten können, mussten Lohnkürzungen hinnehmen. Und offenbar sind seit dem 24. Februar alle ukrainischen Reporter, die in ihrem Beruf geblieben sind, gezwungen, Kriegsberichterstatter zu werden – ob sie wollen oder nicht. Nun berichten sie jeden Tag über die Schrecken des Krieges und dokumentieren Ereignisse, die in die Geschichtsbücher eingehen werden.

"Journalisten, Kameraleute, einfach alle haben bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten gearbeitet, praktisch ohne Schlaf. Selbst diejenigen, die unter Besatzung standen, arbeiteten. Solange sie das Internet oder eine Verbindung hatten, versuchten sie, etwas zu produzieren", sagt Serhiy Malnev. Der 36-Jährige ist der ehemalige Chefredakteur und Moderator des Programms "Vashi Groshi" auf dem Sender Freedom TV.

Einsatz an der Informations- oder an der militärischen Front?

Bis der Krieg begann, war Serhiy Redakteur und Moderator einer investigativen Journalismus-Sendung über Korruption in der Ukraine. Jetzt entlarvt er russische Propagandafälschungen. Sein Blick ist konzentriert, er sortiert seine Gedanken wie Perlen auf einem Rosenkranz und erinnert sich an alle Ereignisse zu Beginn des Krieges. Neben der Angst um Leben und Tod gab es noch ein weiteres Problem: Für die männlichen Angestellten war es moralisch schwierig, im Journalismus zu bleiben. Weil natürlich alle Männer zu den Waffen greifen und dem Land auf diese Weise helfen konnten. Viele seiner Kollegen, wie Serhiy weiter erzählt, taten genau das und meldeten sich gleich in den ersten Tagen freiwillig.

Auch er selbst wurde von dieser Überlegung geplagt: Mobilisieren oder beim Fernsehsender arbeiten? "Ich hatte Angst, nie wieder nach Hause zu kommen", sagt er. "Ich machte mir Sorgen um meine Familie und meinen kleinen Sohn." Er entschied, dass auch Informationsangriffe abgewehrt werden sollten.

Jeden Verbrecher für jedes Verbrechen bestrafen

Igor Sudakov in Kiew
Der Kamermann Igor Sudakov dokumentiert die Kriegssschäden in Kiew. Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

"In Kriegs- wie in Friedenszeiten ist die Arbeit von Journalisten von zentraler Bedeutung für den Schutz der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte", sagt der Kamermann Igor Sudakov. Es sei wichtig, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden und dass die Geschichte wahrheitsgemäß erzählt wird. Deshalb müsse alles dokumentiert werden, was geschehen ist, geschieht und geschehen wird. Und dafür zu sorgen, dass jeder Verbrecher für jedes Verbrechen bestraft wird, beschreibt der 33-Jährige die Rolle seiner Arbeit.

Igor und sein Team drehen Dokumentarfilme über die Kriegsverbrechen Russlands auf dem Gebiet der Ukraine. Jeden Tag erfahren sie neue Geschichten von Schmerz und Schrecken. "Es gibt viele Geschichten”, sagt Igor. “Angefangen bei einem kleinen Kind, dass das zerschossene Auto zeigt, in dem es mit seinem Vater vor der Besatzung geflohen ist. Oder ein Mädchen, das erzählte, wie es versuchte, sich zu Hause vor den russischen Besatzern zu verstecken und nicht hinauszugehen. Und wenn sie doch hinausging, verkleidete sich wie eine alte Frau, um nicht vergewaltigt zu werden. Sie war nicht die Einzige, die das tat", erzählt Igor.

Journalistin Olya will selbst über den Krieg berichten

Igor dreht zusammen mit der Regisseurin Olya Mazenkova Filme über die Folgen des Krieges. Für die 42-Jährige hat die Arbeit während des Krieges eine neue Bedeutung bekommen. Trotz ihres eigenen emotionalen Traumas sei es für sie eine psychologische Stütze, es gebe ihr Kraft, während der Dreharbeiten die Trauer eines anderen zu teilen.

Ich bin dem Schicksal sehr dankbar, dass ich die zerstörte Welt mit meinen Augen und sogar mit meinen Händen berührt und mit den Menschen kommuniziert habe.

Olya Mazenkova, Regisseurin in der Ukraine

Die Frau sagt, dass sie nach dem Ende des Krieges wahrscheinlich bereuen würde, nicht an der Berichterstattung über den Krieg beteiligt gewesen zu sein.

Ukraine Tagebuch
Die Regisseurin Olya Mazenkova zeigt in ihren Filmen, wie die Menschen in Kiew ihre Stadt wieder aufbauen. Bild: Privat

Das Team dreht ein Projekt über den Wiederaufbau der Region Kiew, namentlich von Bucha, Irpin, Borodyanka, Hostomel und anderen Dörfern, deren Fotos und Zeugenaussagen die ganze Welt schockierten. Die Menschen, deren Häuser niedergebrannt wurden und deren Angehörige von russischen Soldaten getötet oder gefoltert wurden, sind die wichtigsten Gesprächspartner von Olya und Igor.

"Trotz der emotionalen Erschöpfung, die die Arbeit mit sich bringt, schaltet sich der Profi in dir ein", sagt Olya, "und dieser Profi macht alles auf eine distanzierte Art und Weise, wie eine Geschichte, die man visualisieren oder zeigen kann. Das ist es, was es möglich macht, nicht alles so tief gehen zu lassen. Du hast hier eine Explosion, und du weißt, wie man ein harmonisches Leben während einer Explosion aufbaut."

Nachrichten über Gewalt gegen Zivilisten

Kriegsschäden in Kiew
Zerstörung in Kiew. Bild: Privat

Was die Psyche immer noch sehr hart trifft, sind Nachrichten über Gewalt gegen Zivilisten und gegen Kinder. "Es ist unmöglich, sich daran zu gewöhnen", fährt Serhiy Malnev fort. Seine Kollegen filmen in einer Dokumentation den Teil der Überlebenden. Das sind die Geschichten von Menschen, die besetzt worden sind. Schreckliche Geschichten: sexuelle Gewalt nicht nur gegen Frauen, sondern auch gegen Kinder – vor den Augen ihrer Eltern; körperliche Misshandlungen in Form von abgeschossenen Gliedmaßen, moralische Misshandlungen wie die Aufforderung, "das eigene Grab zu schaufeln", und dann Hinrichtungen vor den Augen ihrer Dorfbewohner.

Was fühle ich? Ich fühle Wut. Ich empfinde Mitleid mit den Menschen, die gestorben sind, und Wut auf die Bastarde, die das getan haben.

Serhij Malnev, Journalist in Kiew

Serhijs Gesicht wird hart, seine Wangenknochen spannen sich an. "Es gibt kein Bedauern über das Schicksal der Mörder”, sagt er. "Wenn sie zusammen mit Putin verurteilt und ins Gefängnis gesteckt werden, ist das eine legitime Strafe für sie. Aber ist sie auch gerecht? Viele glauben, dass es nicht gerecht genug ist für diejenigen, die diese Gräueltaten und Folterungen begangen haben".

Wohnung von Redakteur Kostyantyn geplündert

Gibt es eine Grenze für die Wahrnehmung von Trauma und Schmerz? Schließlich erfahren die Ukrainer von den Grausamkeiten des Krieges nicht nur aus dem Fernsehen und dem Internet, sondern vor allem aus eigenem Erleben. Viele Journalisten haben die Besatzung selbst erlebt und Angehörige verloren.

Ein Mann steht vor einem Greenscreen
Kostyantyn Ihnatchuks Zuhause wurde in seiner Abwesenheit von russischen Soldaten besetzt. Bild: Privat

Die russischen Besatzer wohnten im Haus von Kostyantyn Ihnatchuk (48), dem Chefredakteur eines Informations- und Analyseprogramms. Er kümmerte sich währenddessen in einer anderen Stadt um seine alten Eltern. Das Haus befindet sich in der Nähe von Kiew, etwa sieben Kilometer vom Flugplatz Gostomel entfernt, der Schauplatz einer heftigen Schlacht war.

Kostyantyn möchte sich nicht daran erinnern, wie der Feind in seinem Haus wohnte, ihn ausraubte, sein Eigentum anrührte und beschädigte. Er beschreibt dieses Gefühl mit einem Wort: "ekelhaft". Einige Monate später, als die Region Kiew befreit war, konnte er endlich in sein Haus zurückkehren.

Ehemann von Journalistin Olya vermisst

In der Nähe von Bakhmut vermisster Soldat
Journalistin Olya spürt, wie sie sagt, dass ihr Mann noch lebt. Bild: Privat

Das Grauen und der Schmerz des Krieges sind auch nicht nur vor der Linse der Filmemacherin Olya Mazenkowa präsent, sondern auch in ihrem persönlichen Leben. Ihr Mann Oleksandr ist Soldat und hat sich seit Beginn des großen Krieges der territorialen Verteidigung angeschlossen und Kiew gegen die Angreifer verteidigt. Nach der Befreiung der Region Kiew ging er in die Region Donezk und wurde im Mai vor einem Jahr in der Nähe von Bakhmut vermisst.

Diese Stadt ist ein Brennpunkt in der Region Donezk, den die russische Armee seit langem zu stürmen versucht. Ihr Mann befindet sich wahrscheinlich in Gefangenschaft. Olya sagt, sie spüre in ihrem Herzen, dass ihr Geliebter noch lebt. "Ich glaube an Gott und ich glaube, dass er Sasha beschützen wird. Im zivilen Leben habe ich nicht so sehr an Sasha geglaubt wie jetzt. Es ist nicht einmal Glaube, es ist Wissen. Ich glaube nicht nur, ich weiß, dass es einen Sieg geben wird, dass Sasha zurückkommen wird, dass unsere Familie zusammen sein wird."

Angst, dass die Grausamkeit normal wird

Emotional fühle ich Schmerz, Ohnmacht und Wut. Ich möchte etwas ändern. Ich hoffe, dass die Arbeit, die ich mache, in irgendeiner Weise zur Gerechtigkeit beiträgt.

Igor Sudakov, Kamermann in der Ukraine

Viele Reporter sagen, dass es nach dem, was sie im Krieg gesehen haben, wenig gibt, was ihnen noch Angst machen könnte. "Manchmal ist die physische Gefahr des Sterbens nicht so beängstigend wie der Gedanke, dass es niemals enden wird", sagt Kamermann Igor Sudakov, der seine Emotionen kaum im Zaum halten kann. Was ihm Angst macht, ist, dass all dies normal werden könnte. Dass die Menschen nicht mehr von der Grausamkeit überrascht werden und aufhören, ihr Beachtung zu schenken: "Emotional fühle ich Schmerz, Ohnmacht und Wut. Ich möchte etwas ändern. Ich hoffe, dass die Arbeit, die ich mache, in irgendeiner Weise zur Gerechtigkeit beiträgt".

Die Zahl der Opfer der russischen Besatzer geht in die Tausende. Die Fakten über diese Verbrechen werden von Journalisten für ein internationales Tribunal zusammengetragen. 

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