Von Bremen nach Kiew: Darum löst Stille mehr Angst aus als Sirenen

Die Reporterin Anna Chaika in Kiew auf einer Straßenkreuzung. Im Hintergrund größere Stadtgebäude

Tagebuch aus Kiew: Der Weg nach Hause ins Kriegsgebiet

Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

Ein Jahr nach ihrer Flucht nach Bremen reist Reporterin Anna Chaika für zwei Wochen zurück nach Kiew. Hier schildert sie ihre Eindrücke von der Reise in ihre vom Krieg gezeichnete Heimat.

Ich sitze mit meinen Freunden in einem der Hochhäuser von Kiew. Es ist 13:29 Uhr. Mein Handy vibriert und meldet, dass in der Ukraine ein Luftangriff bevorsteht. Eine Sekunde später ist das durchdringende Geräusch auch auf der Straße zu hören. Meine erste Reaktion ist, mich im Keller zu verstecken.

Kiew im Frühjahr 2023: Vogelperspektive zeigt Hochhäuser und Straßen
Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

"Oh, wahrscheinlich ist ein Kampfflugzeug in Weißrussland abgeflogen", sagt mein Freund sofort. Aber keiner meiner Freunde rührt sich von seinem Platz, sie bleiben alle sitzen. Wir sind im 14. Stock, ganz gefährlich, ich frage: "Werden wir etwas machen?" Sie antworten "Nein!" Normalerweise gehe er nach unten, sagt mein Freund Jaroslaw, wenn er Explosionen höre. "Du kannst Dich ruhig hinsetzen", versichert er mir, "und ich habe ein Online-Interview mit einer Firma aus Zypern, also gehe ich jetzt ins andere Zimmer."

Die Ukrainer haben sich an das Leben im Krieg angepasst. Es sind nicht mehr Sirenen oder Explosionen, die Angst auslösen. Schlimmer ist es, wenn es sehr lange still ist und nichts passiert. Das ist es, was beängstigend ist. Denn eine lange Stille kann ein Signal dafür sein, dass die Russen etwas vorbereiten.

Der Krieg umgibt uns überall

Kiew im Frühjahr 2023: nobles Stadthaus umringt von Bäumen mit breitem Vorplatz
Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

Der Krieg ist ein Teil des Lebens geworden, so traurig und schmerzhaft es für mich auch ist, daran zu denken. Und es geht nicht nur um Sirenen und Raketen. Der Krieg umgibt uns überall und manifestiert sich auf unterschiedliche Weise.

Am selben Tag ging meine Mutter zum Arzt, weil sie Probleme mit ihrem Auge hatte. Sie kam traurig vom Arzt zurück. Ich fragte sie: "Was ist los, hat der Arzt nicht geholfen?" Lange traute sich meine Mutter nicht, es zu sagen, und dann flüsterte sie fast: "Im Krankenhaus, in der Warteschlange, war ein sehr gutaussehender Mann, jung, höchstens 25 Jahre alt, sportlich. Ihm fehlte ein Bein. Hinter seinen hochgekrempelten Hosen konnte man eine Metallprothese sehen.

Wie viele junge Männer wie ihn wird es noch geben?

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Dieses Thema im Programm: Bremen Next, Next am Nachmittag, 29. März 2023, 17:40 Uhr