Besuch in Kiew: Birgt der Krieg auch eine Chance für die Ukraine?

Anna Chaika kauft in einem Supermarkt Getränke
Reporterin Anna Chaika ist für zwei Wochen zurück in ihrer ukrainischen Heimat Kiew. Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

Journalistin Anna Chaika ist in ihre Heimatstadt Kiew gereist. Trotz ihrer Trauer sieht sie im Krieg auch Chancen – für das ukrainische Selbstbild und die Sprache.

"Der Krieg ist das Beste, was mit der Ukraine passiert ist", sagte heute ein Freund zu mir. Denn es ist eine Chance für die Ukrainer, europäischer und demokratischer zu werden. Eine Gelegenheit zu erkennen, wer wir sind. Früher wurden viele Ukrainer von russischen Erzählungen beeinflusst, schämten sich, Ukrainisch zu sprechen, und sahen russische Fernsehsendungen. Auch die Annexion der Krim und der Gebiete von Luhansk und Donezk hat die Ukrainer nicht verändert. 

In der Tat gibt es die Meinung, dass der Krieg trotz des Schmerzes, der Zerstörung und des Todes eine Chance für die Wiedergeburt der Ukraine ist. Entweder gehen wir gestärkt aus dem Krieg hervor, oder es wird keine ukrainische Kultur auf der Welt geben, und vielleicht nicht einmal uns selbst. Wir erleben furchtbar intensive Ereignisse in einer furchtbar kurzen Zeit. Dieser Krieg hat die Ukrainer verändert und sie dazu gebracht, grundlegende Dinge zu überdenken.

Fahrgäste in einem Bus
Der Krieg bringt Ukrainer zum Nachdenken über ihr Land. Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

In Kiew fällt mir auf, dass um mich herum immer mehr Ukrainisch gesprochen wird. Alle Dienstleistungseinrichtungen, Salons, Supermärkte, Verkehrsmittel, Cafés - überall wird man auf Ukrainisch bedient.

Es mag für Deutsche seltsam klingen, sich darüber zu freuen, dass die Menschen in Deutschland Deutsch sprechen. Sollten wir auch froh darüber sein, dass der Himmel blau und das Wasser nass ist? Aber für die Ukrainer ist das ein wirklich großes Ereignis. Denn zumindest in der Hauptstadt sprachen früher viele Menschen Russisch. Und ich habe früher auch Russisch gesprochen. Nicht viele Ukrainer verstehen wirklich, warum sie früher Russisch gesprochen haben.

Die ukrainische Sprache ist seit über 400 Jahren immer wieder verboten und eingeschränkt worden. In der ukrainischen Geschichte gibt es 134 Verbote der ukrainischen Sprache, beginnend mit der Zarenzeit und endend mit der Breschnew-Ära. All dies geschah mit dem Ziel der Eroberung und Unterwerfung der Ukraine. Selbst der russische Zar Peter I. erließ einen Erlass, der den Druck von Büchern in ukrainischer Sprache verbot; Katharina II. verbot den Unterricht in ukrainischer Sprache.

Eine Stadt an einem Fluß, über den eine Hängebrücke führt
Die ukrainische Sprache prägt eine Geschichte der Unterdrückung. Bild: Radio Bremen | Anna Chaika

Während der Sowjetzeit war es sogar noch schlimmer: In den Schulen der Ukraine wurden die Kinder gezwungen, Russisch zu lernen, und es wurde ihnen gesagt, dass die ukrainische Sprache überhaupt nicht existiere. Ukrainischsprachige Dichter, Schriftsteller und Kulturschaffende wurden verhaftet und deportiert oder getötet, nur weil sie Ukrainisch schrieben oder sprachen. 

Deshalb sprechen heute so viele Ukrainer Russisch; sie sind einfach daran gewöhnt und kennen die Geschichte der Unterdrückung ihrer Sprache nicht. Jetzt ist die Chance, sie wieder zu entdecken.

Mehr Eindrücke aus Kiew:

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Sonntagmorgen, 2. April 2023, 11:40 Uhr