Fragen & Antworten

Wer streikt als nächstes? Wieso Arbeitskämpfe gerade zunehmen

Hinter einem Transparent mit der Aufschrift: "Wir streiken/Verdi", stehen in gelben Warnwesten streikende Menschen.
"Wir steiken": Mitglieder der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi demonstrieren für höhere Löhne. Bild: dpa | Federico Gambarini

Ein Streik folgt dem nächsten. So scheint es. Doch gehen Beschäftigte wirklich immer schneller auf die Straße? Eher nicht, sagen eine Bremer Forscherin und ein Gewerkschafter.

Mal sind es die Lokführer, dann die Busfahrer, zwischendurch das Sicherheitspersonal am Flughafen oder auch Beschäftigte des Einzelhandels: Ein Streik scheint sich dieser Tage an den nächsten zu reihen. Gleichzeitig verzeichnen viele Gewerkschaften Zuwächse. So zählen allein die acht Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) inzwischen 5.665.671 Mitglieder, 37 Prozent mehr als noch ein Jahr zuvor. Das hat der DGB am Mittwoch bekanntgegeben.

Alles Zufall? Oder Ausdruck einer neuen Arbeitskampf-Kultur in Deutschland? Darüber hat buten un binnen mit der Direktorin des Instituts Arbeit und Wirtschaft der Uni Bremen, Irene Dingeldey, gesprochen sowie mit Bremens DGB-Chef Ernesto Harder.

Dieser Artikel wurde zuerst am 2. Februar veröffentlicht.

Irene Dingeldey, die Direktorin vom Institut Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen bei buten un binnen.
Die Sozialwissenschaftlerin Irene Dingeldey beobachtet, dass immer mehr Menschen die Daseinsvorsorge in Deutschland bedroht sehen. Bild: Radio Bremen

Streiken Deutschlands Arbeitnehmer wirklich mehr als früher oder scheint es nur so?

Dass die Beschäftigten in Deutschland heute deutlich mehr streiken als früher, ist für die Sozialwissenschaftlerin Irene Dingeldey von der Uni Bremen nicht bewiesen. Zumindest nicht, wenn man die Entwicklungen über längere Zeiträume und nicht nur über wenige Wochen betrachtet. Zwar gehe man in den Sozialwissenschaften weithin davon aus, dass seit den 2000er Jahren die Streikaktivitäten leicht zugenommen haben. Weitergehende Aussagen aber ließen sich kaum belegen. 

"Man kann Streiks nur schwer oder ungenau messen", erklärt Dingeldey und verweist auf eine ganze Reihe von Variablen, die berücksichtigt werden müssten – darunter die Zahl der Streik-Events, die Zahl der Streikenden, die der Streiktage oder auch jene der Streiktage pro 1.000 Beschäftigte.

Feststellen lasse sich allerdings, dass Deutschland bei den Streiks im europäischen Vergleich im Mittelfeld liegt. "Die streikintensiven Länder, also etwa Belgien und Frankreich, haben eine drei- bis viermal so hohe Streitaktivität wie wir", so Dingeldey. Die Wissenschaftlerin betont, dass gerade die Gewerkschaften des DGB grundsätzlich sehr darauf bedacht seien, alle Verhandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen, ehe sie streiken. Gleichwohl gebe es in Europa Länder wie Österreich oder die Schweiz, in denen noch weniger gestreikt wird als in Deutschland. 

Aber die Meldungen über Streiks reißen seit Monaten nicht ab. Woran liegt das, wenn nicht daran, dass die Gewerkschaften immer öfter zu Streiks aufrufen?

Bremens DGB-Chef Ernesto Harder bestreitet nicht, dass es derzeit zu vielen Streiks kommt. Allerdings rät er davon ab, zu viel in diese Streiks hinein zu interpretieren. "Das ist zum Teil einfach ein Zufall", sagt er über die Ballung der Streiks und erklärt, dass Tarifverträge grundsätzlich immer nur über ein bis zwei Jahre liefen. Da könne es schon einmal vorkommen, dass sich die Tarifverhandlungen in einigen Monaten häuften, gerade dann, wenn sich in den Monaten zuvor wenig getan habe. 

Hinzu komme, dass in der öffentlichen Wahrnehmung vieles unter "Streik" laufe, was in Wahrheit gar kein Streik sei. Harder verweist auf die "Bauernstreiks" der Landwirte, auf die "Schulstreiks" der Fridays for Future-Bewegung und auf "Klimastreiks" radikaler Umweltschützer. "Es ist mitunter gar nicht leicht, zu durchblicken, was ein echter Streik ist. Denn als Verbraucher kann mir egal sein, ob vor meiner Nase eine Demo von Verdi ist, oder ob da Traktoren stehen. Ich komme da halt nicht durch."

Irene Dingeldey sagt, dass wir auch deshalb eventuell das Gefühl hätten, es würde mehr gestreikt als früher, weil sich die Streikaktivitäten verlagert hätten – auf Bereiche des öffentlichen Lebens, die uns direkt betreffen: "Es wird mehr gestreikt im Bereich der Dienstleistungen und in den Bereichen der Daseinsvorsorge wie etwa der Pflege und der Infrastruktur. Das nehmen wir als Normalbürger stärker wahr, als wenn beispielsweise Metallbetriebe bestreikt werden."

Der DGB-Chef Ernesto Harder bei einer Ansprache auf einer Bühne
Bremens DGB-Chef Ernesto Harder sieht die Gewerkschaften bei den Tarifverhandlungen durch die Inflation besonders gefordert. Bild: Radio Bremen

Weshalb hat sich das Streikgeschehen in Richtung Dienstleister und Daseinsfürsorge verlagert?

Dingeldey sieht darin eine Folge neoliberaler Politik ab den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. "Das hat dazu geführt, dass viele Dienstleistungen privatisiert oder ausgegliedert worden sind", sagt sie und verweist beispielhaft auf die Deutsche Bahn: "Die Arbeitsbedingungen sind schlechter geworden. Lokführer werden nicht mehr verbeamtet. Die konnten früher gar nicht streiken."
 
Nicht nur die Bezahlung habe sich in vielen Dienstleistungsberufen verschlechtert. Auch der Arbeitsdruck habe zugenommen. Dingeldey denkt dabei insbesondere an die Pflege und an Erzieherinnen. Letztgenannten sei es bei ihren großen Streiks im Jahr 2015 gar nicht primär um Geld gegangen, sondern um bessere Arbeitsbedingungen.

Hinzu komme, dass in den Dienstleistungsberufen vergleichsweise viele Frauen arbeiteten. Und diese Frauen hätten im Vergleich zu früheren Generationen erheblich an Selbstbewusstsein gewonnen, wüssten um den Wert ihrer Arbeit und seien bereit, für eine faire Bezahlung zu streiten und zu streiken. 

Ist der hohe Zulauf mancher Gewerkschaft ebenfalls darauf zurückzuführen, dass sich Arbeitsbedingungen verschlechtert haben?

Ja, sagen Harder und Dingeldey übereinstimmend. Einen anderen Grund für den Zulauf einiger Gewerkschaften sieht die Sozialforscherin darin, dass diese Gewerkschaften seit einigen Jahren neue Methoden der Mitgliederwerbung beschritten, darunter Verdi. "Wir nennen das Mobilizing for conflict", so Dingeldey.

So machten die Gewerkschaften bestimmten Berufsgruppen, etwa Erzieherinnen, am Beispiel konkreter Arbeitskämpfe deutlich, dass sie ihnen nur dann auf die gleiche Weise helfen könnten, wenn sie Mitglieder werden – und am besten noch weitere Mitglieder aus dem eigenen Betrieb anwerben.

Wie wirken sich die Wirtschaftskrise und die Inflation der letzten Jahre auf Tarifkonflikte aus?

Durch die Preissteigerung sei ein Verteilungskonflikt in den Vordergrund gerückt, sagt Dingeldey. "Wir haben Reallohnverluste durch die Inflation. Die Arbeitnehmer können weniger kaufen und schlechter ihre Rechnungen bezahlen." Um diese Verluste zu kompensieren, stellten die Gewerkschaften höhere Lohnforderungen – mit denen die Arbeitgeber meist nicht einverstanden seien. "Und dann kommt es zum Konflikt", fasst Dingeldey zusammen.

Bremens DGB-Chef Ernesto Harder bestätigt: "In Zeiten der Inflation ist es bei den Verhandlungen der Tarifverträge natürlich immer das Ziel der Gewerkschaft, die Preissteigerung auszugleichen und das Entgelt zu erhöhen." Das gelte derzeit umso mehr, als es sich bei der aktuellen Inflation um die Folge extrem stark gestiegener Energiepreise handele und nicht etwa, wie bei früheren Preissteigerungen, um die Folge einer verfehlten Geldpolitik. "Mit höheren Entgelten könnten wir heute die Inflation auffangen statt sie zu verschärfen", schlussfolgert der Gewerkschafter.

Dass sich die Arbeitgeberseite in den entsprechenden Verhandlungen aufgrund der vermeintlich hohen gewerkschaftlichen Forderungen üblicher Weise zunächst einmal geschockt gibt, liege in der Natur der Sache. Ebenso folgerichtig sei, dass die Gewerkschaften im nächsten Schritt versuchten, ihren Forderungen durch Warnstreiks Nachdruck zu verleihen. Auch dadurch, so Harder, könne derzeit mitunter fälschlicherweise der Eindruck entstehen, dass die Gewerkschaften und Beschäftigten generell streikfreudiger geworden seien.

Wie Bremerinnen und Bremer den Lokführer-Streik erlebt haben

Bild: Radio Bremen

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Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 1. Februar 2024, 19.30 Uhr