Dieser Richter verhandelte Bremens aufsehenerregendste Kriminalfälle

Ob der sogenannte "Bunkermord", der "Fall Kevin" oder jüngst der "Mord ohne Leiche": So erlebte Helmut Kellermann Bremens große Kriminalfälle von der Richterbank aus.

Bild: dpa | Ingo Wagner

Wenn man als Richter ausgebildet wird und irgendwann dann auch tatsächlich hier im Gerichtssaal ist, sich anhört, was Zeugen schildern, Akten liest und mit teilweise ganz schön krassen Dingen konfrontiert wird: Ist das etwas, worauf man vorbereitet wird?

Also im juristischen Studium überhaupt nicht. Da gibt es keine Vorbereitung, dass man auf einmal Sachen zu sehen und zu lesen bekommt, von denen man nicht geglaubt hätte, dass es so passieren könnte. Das findet im juristischen Studium – während meiner Zeit, über die heutige Zeit kann ich nicht reden – nicht statt.

Wie kommt man denn am Anfang damit klar?

Schwierig. Ein Schöffe, der sogar bei der Polizei Angestellter war, ist dort hinten (zeigt hinter sich auf die Richterbank) weggerutscht, als wir die Kinderfotos gezeigt haben vom Prozess um Kevin. Der hat einen kleinen Nervenzusammenbruch bekommen. Und als Richter ist das am Anfang so viel anders nicht.
Ich habe ja als Richter den Vorteil, dass ich das nicht hier im Raum erstmals sehe, sondern ich kriege die Akte vorher auf den Tisch, so dass Du Dich in deinem Arbeitszimmer zurücklehnen und sagen kannst: "Ich höre jetzt auf, das zu lesen. Ich blättere mal ein bisschen weiter. Das lese ich später wieder."
Man muss dann Mechanismen entwickeln, um das zum Teil ertragen zu können – Kinderpornografie sich anschauen zu können, die man später im Einzelnen beschreiben muss. Alles Fotos, die dann die Öffentlichkeit später nicht zu sehen bekommt, sondern die dann am Richtertisch angeguckt werden. Aber wenn Du das das erste Mal siehst, da kann Dir schon speiübel werden.
Wer die Fotos noch eher sieht, ist die Geschäftsstelle. Die bereitet dich schon darauf vor. Dann sagen die: "Herr Kellermann, da kriegen Sie jetzt Furchtbares zu sehen." Dann weißt du schon Bescheid.
Häufig geht’s um Bilder, aber auch um Beschreibungen. Töne zunehmend in den letzten Jahrzehnten, auch Originaltöne, die ich dann erleben durfte und musste. Handy-Aufnahmen, die gespeichert worden sind von der Polizei, furchtbarer Art mit Schreien drauf und solchen Geschichten. Das hörst du dir dann in deinem Büro an, das guckst du dir in deinem Büro an. Und da bist du alleine. Da willst du auch niemanden rund umzu haben. Das musst du dann erstmal ein bisschen mit dir verarbeiten.

Wie macht man das denn? Wie geht man damit um, damit man sich nicht zu sehr belastet damit?

Man muss sich entscheiden zu einem möglichst frühen Zeitpunkt, ob man sich das "antun" will. Es gibt Kollegen, die können das nicht. Die sagen auch ganz deutlich "Ich mache jeden Betäubungsmittelprozess, kein Problem, aber bestimmte Prozesse, die sehr hart sind von dem Sujet her – Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Pornografie, sexueller Missbrauch von Kindern und solche Geschichten – das kann ich nicht."
Ich war immer daran interessiert, muss ich zugeben. Ein gewisser Voyeurismus gehört irgendwie dazu, wenn du in dem Bereich arbeitest. Du musst es dir ja angucken. Du brauchst eine gewisse Grundausstattung. Eine gewisse "Sensationsgier" muss dir ein Stück weit schon zu Eigen sein. Nicht deswegen habe ich diese Tätigkeit gemacht, muss ich deutlich einschränken, sondern weil ich die dahinter liegenden Konflikte und Spannungen innerfamiliärer Art einfach sehr spannend fand und bis heute finde.

Würden Sie sich mit dem Wissen von heute wieder für diese Richterlaufbahn entscheiden? Würden Sie das Ganze nochmal von vorne wieder anfangen?

Ja. Die dahinterliegenden persönlichen Konflikte, Spannungen und so weiter, die zu den teils monströsen Taten geführt haben, die sind spannend. Aber diese Blicke, die Du miteinkaufst – trotz allem Voyeurismus –machen es nicht einfach, sich dafür zu entscheiden. Ich habe es 30 Jahre gemacht. Es war gut, aber das ist sozusagen der Kollateralschaden, den Du mitnimmst, wenn Du an dem anderen interessiert bist.

Ex-Richter Helmut Kellermann im braungetäfelten Gerichtssaal.
Wer sich als Richter auf Mordfälle einlässt, zahlt dafür mitunter einen hohen Preis, sagt Kellermann. Bild: Radio Bremen

Sie haben von Abstand gesprochen, den man nicht immer schafft aufzubauen. Können Sie sich erinnern, bei welchen Fällen Sie das möglicherweise mit nach Hause genommen haben, es Sie vielleicht sogar bis in die Träume verfolgt hat?

Bei Eingang der Anklage liest du ja schon die Akte. Aber wenn die Hauptverhandlung unmittelbar bevorsteht, dann bist du nur noch in dem Fall drin. Dann ist das schon ein bisschen so, dass ich persönlich – es gibt andere Kollegen, die können das besser, ich konnte es nicht, können Sie meine Frau fragen – ich schleppe das mit nach Hause. Ich bin in den Wochen, wenn es um einen extremen Fall geht, eigentlich anderweitig kaum gebrauchsfähig. Da tauche ich ein. Ich tauche auch richtig tief ein, ich nehme mir auch sehr viel Zeit dafür.
Dann, wenn das Urteil gesprochen ist, wenn die Hauptverhandlung beendet ist, wenn alles hier rausgeht, ich in den Raum reingehe: Ab da beginnt die Abstraktion davon, ab da geht es los, dass ich beginne, es zu meinen inneren geistigen, seelischen Akten zu legen. Weil ich das muss. Und das gelingt unterschiedlich schnell.
Das passiert natürlich dadurch, dass man den nächsten Fall bekommt, wo man sich wieder in gleicher Tiefe reinbegeben muss. Aber bestimmte Sachen kriege ich nicht ganz raus aus dem Kopf, tauchen immer mal wieder auf.

Was sind das für Fälle?

Es ist nicht traumatisierend, soweit würde ich nicht gehen. Aber in meinen Träumen, in Gedanken, wenn irgendetwas aufploppt, etwas Geschehenes: Das sind sexuelle Missbrauchsfälle zum Teil, das sind in der Regel auch Schwurgerichtsfälle, also Totschlagsfälle, Mordfälle, das ist der Prozess um Ayse und Serif, die 1999 getötet worden sind beim Bunker Farge. Das ist ein Prozess um eine alte Frau, die getötet worden ist, und wo anschließend Gedärme um ihren Hals gewickelt waren. Das sind Verfahren dieser Art, die mich weiter beschäftigen.

Aber es geht jetzt nicht nur um besonders monströse, brutale Geschichten, es können auch andere Sachen sein. Es ist ein Prozess, der mir im Kopf immer wieder auftaucht: Da war jemand angeklagt. Ein älterer Mann, der hatte fünf Kinder. Drei Stiefkinder, zwei eigene. Und die hat er missbraucht. Die Familie hatte zusammengehalten. Einer war ausgeschert. Und es war immer so im Hintergrund die Frage, ob nicht auch die anderen Kinder Opfer waren. Und dann hatten sie sich entschieden, doch auszusagen und haben in der Hauptverhandlung ausgesagt. Zwei Jungs, ein Mädchen. Und haben da erstmals Dinge preisgegeben, was mit ihnen gemacht worden war, erstmals überhaupt. Das wusste nicht mal die Familie. Das wussten die auch untereinander nicht. Erstmals Dinge gesagt, wo mir so die Tränen in den Augen waren. Könnte ich heute noch bekommen, wenn ich dran denke, wo ich dann merkte, da habe ich die professionelle Distanz verloren in der Hauptverhandlung. Dieses kriege ich aus meinem Kopf so leicht nicht raus.

Ein anderer Fall war der, dass eine junge Frau sich mit einem anderen eingelassen hatte. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt. Der Mann war aber dennoch so drauf, dass er sagte, das ist meine Frau und bleibt meine Frau, und war dementsprechend eifersüchtig, hatte von diesem anderen Verhältnis erfahren. Dann haben sie die an einer einsamen Stelle in Bremen getroffen mit dem Auto, und dann gab es eine Autofluchtfahrt. Und die Frau hat sofort angerufen bei der Polizei und das ist als Notruf aufgenommen worden. Fünf Minuten. In der Zeit passierten zwei Unfälle. Sie kamen irgendwo hier in Bremen zum Stehen und die beiden Täter haben dann ihren neuen Lebensgefährten erstochen. Und das alles bekommt sie mit. Und die Polizei redet immer mit ihr, das ist Polizeitaktik, das müssen sie auch: "Wo sind sie jetzt? Wie heißt die Straße?" Und so weiter. Und sie fängt dann irgendwann an zu schreien. Diese Schreie, die kommen immer wieder in meinen Kopf rein. Die kriege ich auch nicht wieder raus. Da ist so die Grenze dessen erreicht, wo ich dann denke: "Kellermann, würdest Du es alles nochmal machen?".
Den Job habe ich gerne gemacht, immer. Habe mich auch sehr engagiert da, aber das sind so Momente, wo ich dann denke… aber gut, aber damit muss ich leben.

Ist ein ganz schön hoher Preis...

Ja, das ahnst du vorher nicht, weil es individuell ist, wen was besonders trifft. Da mögen manche Kollegen sagen, ich kann das schon nicht sehen, was du dir da immer anguckst. Aber bestimmte Grenzfälle…ja.

Hat das eigentlich auch Auswirkungen auf das Privatleben, dass man im Privaten möglicherweise bestimmte Dinge meidet, vielleicht ängstlicher wird? Oder ist das dann wiederum ganz getrennt?

Während der laufenden Hauptverhandlung bin ich kaum gebrauchsfähig, auch im privaten Bereich. Weil ich dann immer wieder an diese Fälle denke. Mich auch überprüfe: "Was hast Du da falsch gemacht oder hast Du Fehler gemacht, was musst Du noch machen, um das gut aufzuklären, so gut aufzuklären, dass Du es auch Dir gegenüber vertreten kannst?" Das schwelt dann so im Kopf rum. Und das trifft dann natürlich in dem Augenblick auch die Familie, die Kinder. Auch die merken das deutlich.
Ich bin nicht ängstlicher geworden. Ich bin kein ängstlicher Mensch. Das darfst du meines Erachtens als Vorsitzender eines Schwurgerichts nicht sein. Ich bin immer auf die Angeklagten auch zugegangen. Da stecken ja auch Personen dahinter, die haben ihre eigene Geschichte. Auch die hat mich dann immer interessiert. Und so baust du dann auch die Spannungen schon im Prozess wieder ein bisschen ab. Auch in deinem Kopf rückst du das wieder gerade. Ganz weglegen konnte ich die Fälle in der Zeit nie so ganz.

Autor

  • buten un binnen-Reporter Uwe Wichert steht vor dem Klinikum Links der Weser.
    Uwe Wichert

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 26. Oktober 2020, 19:30 Uhr

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