Interview

"In Bremen fehlen mindestens 1.000 Köpfe im Schulsystem"

Langjähriger Sprecher des Zentralelternbeirat Bremen zieht sich zurück

Bild: Radio Bremen

Martin Stoevesandt hört als Sprecher des Zentralelternbeirates auf. Hier blickt er auf ein Jahrzehnt Bremer Bildungspolitik zurück – und macht zum Schulbeginn wenig Hoffnung für das nächste.

Martin Stoevesandt war knapp elf Jahre Vorstand des Zentralelternbeirats (ZEB), dem obersten Gremium der Elternvertretungen in Bremen. Der 53-jährige ist selbst Vater von vier Kindern. Das jüngste kommt in diesem Sommer in die fünfte Klasse, das älteste hat inzwischen Abitur. In Stoevesandts Zeit im ZEB-Vorstand waren vier Senatorinnen für das Bildungsressort und somit Bremens Schulpolitik zuständig.

Herr Stoevesandt, sind Sie froh, nicht mehr ZEB-Sprecher sein zu müssen?

Ich bin nicht aus Frust gegangen. Ich hatte ja schon länger geplant, aufzuhören. Und jetzt, wo mein letztes Kind aus der Grundschule ausgeschult worden ist, war der richtige Zeitpunkt gekommen. Dennoch muss man feststellen, dass sich das Schulsystem in den vergangenen elf Jahren nicht zum Besseren gewendet hat.

Was kritisieren Sie?

Es wurde Jahre, wenn nicht Jahrzehnte lang kaputtgespart. Da ist Bremen zwar nicht ganz allein in der Bundesrepublik Deutschland, aber Bremen ist da sicherlich Marktführer im am effektivsten Kaputtsparen. Und Bremen hat bis 2016 jedes Jahr auch Lehrkräfte an der Tafel eingespart – wider besseres Wissen.

Sie spielen auf die in den Jahrzehnten zuvor fallenden Schülerzahlen an, die seit den 2010er Jahren wieder steigen.

Ja. Und dann kam 2015 noch die Flüchtlingskrise, wobei die im Grunde gar nicht ausschlaggebend war. Denn die steigenden Schülerzahlen hier in Bremen hätten auch ohne diesen Zustrom genügt, um das System an die Grenzen zu bringen.

Ist das Bildungssystem zu träge, um zu reagieren?

Offensichtlich ja. Wenn Lehrkräfte ausgebildet werden sollen, so wie wir uns das vorstellen, dann brauchen Sie so sechs bis sieben Jahre. Und diese Kinder, die fallen ja nicht im Alter von sechs vom Himmel, die wurden ja irgendwann mal geboren. Da möchte man meinen, es hätte einen gewissen Vorlauf gegeben. Dieser Vorlauf wurde im Haushaltsnotlageland Bremen aber komplett ignoriert. Man hat andere Prioritäten gesetzt und die Augen verschlossen, bis es im Grunde zu spät war.

Der Sprecher des Zentralelternbeirates Martin Stoevesandt auf der Bühne bei einer Demonstration auf dem Bremer Marktplatz.
Martin Stoevesandt bei einer Demonstration auf dem Bremer Marktplatz Bild: Radio Bremen

Bremen hat auch ganz konsequent, seit es in den Achtzigerjahren sinkende Schülerzahlen gab, jede Schule, jede Immobilie und den Grund und Boden an Investoren verkauft und Kasse gemacht. Mein Lieblingsbeispiel ist immer die Haupt- und Realschule an der Lothringer Straße in Schwachhausen. Das ist ein riesiges Wohngrundstück heute. Und das ist unwiederbringlich verloren.

2015 hatte die damalige Bildungssenatorin Eva Quante-Brandt im Streit um die Finanzierung der Schulen ihr Senatorinnen-Amt niedergelegt. Sie hatten dann vor allem mit Nachfolgerin Claudia Bogedan zu tun – seit deren Rücktritt im Jahr 2021 schließlich mit Sascha Aulepp, ebenfalls von der SPD. Mit wem lief die Zusammenarbeit am besten?

Das ist relativ einfach. Claudia Bogedan und ich sind politisch zwar wahrscheinlich verdammt weit voneinander weg. Uns hat aber zu 110 Prozent geeint, dass wir trotz dieser Gegensätze schon im April 2020 eine einzige Intention hatten, und zwar die Schulen während der Pandemie möglichst offen zu lassen. Und da haben wir ohne Wenn und Aber für anderthalb Jahre an einem Strang gezogen. Nachher waren wir, wenn Sie so wollen, in der Bundesrepublik Deutschland die Corona-Gewinner in Bremen, weil wir die einzigen waren, die konsequent im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten die Schulen aufgelassen hatten.

Frau Bogedan, aber auch schon vor ihr Frau Quante-Brandt, haben den ZEB immer als Sparringspartner gesehen. Sie haben versucht, uns proaktiv mit einzubinden.

Das Verhältnis zum Bildungsressort ist seit 2021 allerdings abgekühlt.

Ja. Die Zusammenarbeit lief in den letzten zwei Jahren unter Frau Aulepp diametral entgegengesetzt. Wir hatten in dieser Zeit genau zweimal einen einstündigen Termin mit der Senatorin. Und der wurde dann auch immer pünktlich nach 60 Minuten beendet. Inhaltlichen und substanziellen Austausch hat es mit Frau Aulepp zu keinem Zeitpunkt gegeben.

Die Probleme bleiben jedoch seit Jahren dieselben. 65 Vollzeitstellen für Lehrkräfte sind dem Personalrat Schulen zufolge in Bremen zum Schuljahresbeginn unbesetzt.

Was die fehlenden Stellen an Schulen betrifft, ist diese Zahl aus meiner Sicht wohl noch dramatisch zu niedrig gegriffen. Da sprechen wir eher von deutlich dreistelligen Zahlen. Und wenn wir vom wirklichen Bedarf mit Betreuung und allem sprechen, dann fehlen in Bremen sicherlich mindestens tausend Köpfe im Schulsystem.

Anfang August hat das Bildungsressort Lehrer sogar darum gebeten, mehr Stunden zu arbeiten. Ein richtiger Schritt?

Da kann ich jetzt nicht mehr für den ZEB sprechen. Genauso wie es nötig ist, Lehrkräfte abzuordnen, halte ich es persönlich aber für goldrichtig. Die Bremer Lehrkräfte sind fast alle verbeamtet und arbeiten in einem Bereich, wo akute Not herrscht. Gleichzeitig arbeitet ein großer Teil dieses Personals nur Teilzeit. Das ist in der Vergangenheit toleriert und akzeptiert worden.

Peirre Hansen vom Zentralelternbeirat
Pierre Hansen ist neuer Sprecher des ZEB. Der zweite Sprecherposten ist derzeit noch unbesetzt. Bild: Radio Bremen

In einem Wirtschaftsunternehmen wäre wohl längst aus dringenden betrieblichen Gründen für eine bestimmte Zeit die Teilzeitarbeit untersagt worden. Zumindest diejenigen, die Teilzeit wegen ihrer Work-Life-Balance machen, können das dann für eine bestimmte Zeit vielleicht mal nicht. Insofern ist die freundliche Bitte des Staatsrats Klieme, ob jemand mehr arbeiten möchte, aus meiner Sicht eine höfliche Variante, die im Beamtenverhältnis eigentlich gar nicht notwendig wäre.

Andere in Bremen umstrittene Themen wie die bessere Finanzierung von Schulen in freier Trägerschaft oder der mögliche Bau neuer Schulen in öffentlich-privaten Partnerschaften werden Sie von nun an von der Seitenlinie verfolgen. Wird es unter Ihrem Nachfolger, Pierre Hansen, etwas ruhiger zugehen im Austausch zwischen ZEB und Bildungssenatorin? Immerhin hat er das gleiche Parteibuch wie Frau Aulepp.

Ach, das weiß ich nicht. Ich glaube, das ist so ein bisschen charakterabhängig. Wenige Leute hätten mich wahrscheinlich für den diplomatischen Dienst vorgeschlagen. Fachlich ist Pierre Hansen ja fast genauso lange dabei wie ich. Er war ja auch schon ZEB-Vorstandssprecher, bevor er vor gut vier Jahren zur Bürgerschaftswahl antrat. Und auch die zweite ZEB-Vorstandssprecherposition werden meine Nachfolger sicher bis zum Herbst gut besetzen.

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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 15. August 2023, 19:30 Uhr