Vereinte Kulturen: Diese Ukrainerin führt Bremer durchs Focke-Museum

Eine Frau steht vor dem Eingang des Focke-Museums in Bremen
Olena Pokhodiashcha ist vor fünf Monaten von Kiew nach Bremen geflohen. Bild: Radio Bremen

Während sie sich in Kiew vor Raketen versteckte, bekam Olena Pokhodiashcha eine Einladung zum Arbeiten in Bremen. Im Focke-Museum führt sie jetzt Besucher durch die Ausstellung.

Vor fünf Monaten ist Olena Pokhodiashcha mit ihrer pensionierten Mutter von Kiew nach Bremen gezogen. Nach allen Migrationsverfahren ging es für die 47-Jährige sofort an die Arbeit. Pokhodiashcha ist zertifizierte Expertin für kulturelle Werte und arbeitete seit 1997 in Kiew im Nationalmuseum für die Geschichte der Ukraine.

Zwei Frauen betrachten historische Skulpturen im Focke-Museum in Bremen
Olena Pokhodiashcha sieht viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Focke-Museum und ihrem Heimatmuseum in Kiew. Bild: Radio Bremen

Vor ein paar Jahren gab es eine Kooperation zwischen Kiew und Bremen. Ein gemeinsames Projekt mit Kunsthistorikern und Experten zur wissenschaftlichen Zuordnung und Rückgabe von Kulturgütern: Deutschland suchte in der Ukraine nach Kunstwerken und Gegenständen, die das sowjetische Militär mitgenommen hatte. Ebenso suchte die Ukraine in Deutschland nach ihren Kunstwerken. Die Bekanntschaften aus dieser Zusammenarbeit halfen Pokhodiashcha dann, an einen sicheren Ort zu kommen und einen Arbeitsplatz in Bremen zu finden.

Mit einem Stipendium nach Bremen

Mit dem deutschen Professor und Kunstkritiker Wolfgang Eichwede hat Pokhodiashcha zuvor zusammengearbeitet. Er stellte ihr ein Empfehlungsschreiben für ihre Arbeit im Bremer Focke-Museum aus, mit dem die Direktorin des Museums, Anna Greve, ein Stipendium für Pokhodiashcha erhalten konnte. "Das Stellenangebot war eine Überraschung für mich," erinnert sich Pokhodiashcha, "wir kannten das Museumsteam, Wolfgang Eichwede und die Mitarbeiter der Kunsthalle schon vorher." Als Pokhodiashcha mit ihrer Mutter von Kiew nach Lemberg gebracht wurde, habe sie ihre Kollegen aus Deutschland angerufen und gesagt, dass sie vor habe, die Ukraine zu verlassen, aber nicht wisse, wo in welches Land sie gehen solle.

Einen Tag später riefen sie mich an und sagten, es gäbe eine Stelle in einem Museum, aber ich wusste nicht einmal, in welchem Museum. Ich habe einfach meine Sachen gepackt und die Ukraine verlassen, weil ich Angst um mein Leben hatte.

Eine Frau steht vor der Ausstellung von Schiffsbildern im Focke-Museum in Bremen
Olena Pokhodiashcha, Kunsthistorikerin

Aus Kiew in den neuen Job nach Bremen

Während sie Dokumente zusammenstellte und noch auf die Genehmigung des Migrationsdienstes wartete, arbeitete Pokhodiashcha einen Monat lang kostenlos im Museum. Auch, um Erfahrungen zu sammeln. Wenn sie an die Ereignisse dieser Zeit zurückdenke, erinnert sich Pokhodiashcha, dass es für sie nicht leicht war, die Situation zu akzeptieren. Die tägliche Arbeit habe Pokhodiashcha geholfen den Stress zu überwinden, sagt sie, denn diese gebe ihr das Gefühl, nützlich zu sein.

Wir kamen unter großem Stress und mit vielen Zweifeln an: Was, wenn wir es falsch gemacht haben? Der Krieg wird bald zu Ende sein, warum sind wir gekommen?

Eine Frau steht vor der Ausstellung von Schiffsbildern im Focke-Museum in Bremen
Olena Pokhodiashcha, Expertin für kulturelle Werte aus Kiew

Führungen durchs Museum und die Stadt

Zurzeit arbeitet Pokhodiashcha jeden Tag von 9 bis 17 Uhr und bringt sich nebenbei viel über Bremen bei. Sie bietet außerdem Führungen für Ukrainer an, um ihnen die Geschichte der Stadt zu erklären. "Für die Exkursionen bereite ich verschiedene Themen vor. Ich mache zum Beispiel eine Führung über zehn wichtige Dinge, die man über Bremen wissen sollte. Normalerweise gehe ich in die Bibliothek, lese alles, übersetze selbst, studiere die Ausstellung und erstelle meine Tour-Routen."

Wenn Pokhodiashcha sich mit der Geschichte des Focke-Museums beschäftigt, findet sie viele Gemeinsamkeiten mit ihrem Heimatmuseum in Kiew: Beide sind historische Museen, haben aber auch Kunstsammlungen. Beide wurden Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet und beide wurden von Wissenschaftlern gegründet.

Städte haben viele Gemeinsamkeiten

Auch in der Geschichte der beiden Städte gibt es viele Gemeinsamkeiten: "Als Bremen in der Nacht vom 18. auf den 19. August 1944 bombardiert wurde, wurden 65 Prozent der Bremer Gebäude zerstört, und mehr als 10.000 Sprengbomben wurden auf die Stadt geworfen. Wenn ich das erzähle, fangen die Ukrainer alle an, sich an ihre Städte zu erinnern, wie sie bombardiert wurden, und sagen: 'Jetzt verstehen wir, warum Bremen uns so sehr hilft, weil sie es auch erlebt haben.'"

Bei den Führungen seien die Menschen jedoch nicht traurig oder weinten, sagt Pokhodiashcha, sondern im Gegenteil, sie verbreiteten eine positive Stimmung, selbst wenn sie schlecht gelaunt kämen – sie verließen die Führung beschwingt. Auch für Pokhodiashcha ist es manchmal schwierig, ihre Gefühle zu kontrollieren. Doch die Arbeit hilft. Pokhodiashcha steht ständig in Kontakt mit ihren Kollegen aus Kiew und vermisst sie sehr.

Exponate in den Wänden versteckt

Als der Krieg begann, versteckten Arbeiter einen Teil der Exponate des Nationalmuseums für die Geschichte der Ukraine. Sie brachten sie in den Keller oder versteckten sie zwischen den Wänden. Das Museum lebt und füllt die Sammlung auch jetzt noch auf: Militärische Kleidung, Symbole, Haushaltsgegenstände und Waffen werden der Sammlung hinzugefügt – all das wurde vom Militär mitgebracht. "Das ist notwendig, um die Geschichte zu bewahren. Wir sammeln Erinnerungen."

Während die Männer die Ukraine an der Front verteidigen, betrachtet sich Pokhodiashcha als Kämpferin gegen die russische Propaganda: "Ich versuche, die Wahrheit über die Ukraine, die Ukrainer und unsere Geschichte zu verbreiten. Jeder Tag ist ein Kampf für die Existenz der Ukraine, für unser kulturelles Erbe und unsere Spiritualität. Die Aussagen der russischen Propaganda, die Ukraine sei kein Land und Lenin habe uns geschaffen, sind sehr enttäuschend. Wie kann man sich so etwas überhaupt vorstellen?"

Ihr Traum: Die Ukraine wieder ohne Krieg erleben

Was Pokhodiashcha tun wird, wenn ihr Arbeitsvertrag in Bremen in einem Jahr ausläuft – das weiß die Frau noch nicht und plant auch nichts. Ihr Traum, sagt Pokhodiashcha, wird von allen Ukrainern geteilt – der Krieg soll so schnell wie möglich beendet werden. Dann will Pokhodiashcha wieder in der Ukraine arbeiten.

Ich träume von einer Vollzeitstelle in Kiew, und ich hoffe, dass es eine [...] Zusammenarbeit und kulturelle Kommunikation zwischen Kiew und Bremen geben wird. Ich hoffe auf gemeinsame Projekte und Ausstellungen nach dem Krieg. Denn Kultur ist das, was uns alle verbindet.

Olena Pokhodiashcha, Expertin für kulturelle Werte aus Kiew

Chancen für Geflüchtete: So sieht ihr Arbeitsalltag in Bremen aus

Bild: Radio Bremen
  • Auszeit vom Krieg: Ukrainische Soldaten auf Familienurlaub in Bremen

    Zwei Ukrainer sind auf Fronturlaub in Bremen. Die Ukrainer besuchen hier ihre Frauen und Kinder.

Autorin

  • Profilbild von Anna Chaika
    Anna Chaika Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 1. August 2022, 19:30 Uhr