Interview

Bremer Kriminologe: Statistik ist kein Gradmesser für Sicherheitslage

Ein Polizeibeamter überprüft die Personalien einer Frau in einem Polizeifahrzeug (Symbolbild)
In der Polizeilichen Kriminalstatistik sind die Zahlen der Anzeigen registriert. Für fundierte Aussagen über die Sicherheitslage braucht es deutlich mehr, meinen Wissenschaftler. Bild: dpa | photothek/Florian Gaertner

Warum er die Polizeiliche Kriminalstatistik nicht für geeignet hält, um die wirkliche Kriminalitätslage zu beschreiben, erklärt ein Bremer Wissenschaftler.

Mann mit Schnauzer, Brille und blauem Hemd vor Fensterfront
Johannes Aschermann ist Kriminologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen. Bild: Radio Bremen

Auch in Bremen ist nach den Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik der Anteil nicht deutscher Verdächtiger bei Straftaten angestiegen. Außerdem registrierte die Polizei mehr junge Verdächtige. Welche Rückschlüsse man aufgrund dieser Zahlen ziehen darf und welche Schwachstellen die Statistik ausweist, darüber haben wir mit Johannes Aschermann, Kriminologe an der Universität Bremen, gesprochen.

Herr Aschermann, die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, dass es 2023 im Land Bremen viele nicht deutsche Tatverdächtige gab. Wenn man das ausrechnet, entfällt deren Anteil auf rund 46 Prozent. Ein Anstieg von 31 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Wie kann man sich das aus kriminologischer Sicht erklären?

Das sagt zumindest erst einmal aus, dass unter den Tatverdächtigen, die die Polizei registriert hat, mehr Tatverdächtige waren, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besessen haben, als im Vorjahr. Damit lässt sich auch die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik akkurat wiedergeben, denn alles andere, was weitergehen würde, wäre schon eine Interpretation dieser Zahlen. Sie ist nicht möglich, ohne dass man bestimmte Kontextfaktoren miteinbezieht oder die Verzerrungen und Begrenzungen dieser statistischen Erfassung mitbedenkt.

In Bremen ist die Soko "Junge Räuber" gegründet worden. Damit sollen junge Tatverdächtige ermittelt werden, die auch dadurch aufgefallen sind, dass sie nicht dauerhaft hier sind, sondern weiterziehen, auch über Landesgrenzen. Welche Rolle spielt diese Gruppe?

Aus den Zahlen der Kriminalstatistik lassen sich solche singulären Phänomene nicht herauslesen. Das ist Teil der Kritik daran. Die Kategorie der Nicht-Deutschen ist absolut interpretationsoffen. Darunter werden alle Personen gefasst, die nicht deutsch im Sinne der Kriminalstatistik sind. Deutsch in diesem Sinne sind Menschen mit deutschem Pass, ob sie hier wohnhaft sind, ist nicht das Kriterium.

Für das Land Bremen ausgerechnet, entfallen 25 Prozent der Straftaten von tatverdächtigen Menschen ohne deutschen Pass auf die Gruppe der unter 21-Jährigen. Kann man von einem Anstieg der Jugendkriminalität sprechen?

Nur mit diesen Zahlen kann man das sicherlich nicht. Das ist ja auch jedes Jahr wieder das Thema, über das viel diskutiert wird, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik überhaupt nicht in der Lage ist, ein wirklichkeitsgetreues Abbild der Kriminalitätsentwicklung zu geben. Die Zahlen, die in der Statistik registriert werden, sind nicht, oder wenn, dann nur sehr begrenzt, ein Abbild dessen, wie sich die Kriminalitätswirklichkeit entwickelt. Das heißt, ein Zuwachs von tatverdächtigen Menschen von Jahr zu Jahr muss überhaupt nicht bedeuten, dass sich die Kriminalitätslage negativ verändert.

Können Sie erklären, woran das liegt?

Die Polizeiliche Kriminalstatistik gibt Auskunft über die Tätigkeit der Polizei, also darüber, wie viele Strafanzeigen bearbeitet wurden, wie viele an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurden im jeweiligen Berichtsjahr. Damit sind wir in einer Erfassung von Verdachtsfällen oder Tatverdächtigen. Aus mehreren Gründen kann man damit nicht davon ausgehen, dass das die Kriminalitätswirklichkeit abbildet. Erstens ist es so, dass sehr sehr viele der registrierten Verdachtsfälle im weiteren Verlauf des Strafverfahrens einfach ausgefiltert werden. Verfahren werden zum Beispiel eingestellt, weil der Verdachtsgrad nicht ausreicht, weil die Staatsanwaltschaft sagt, das reicht uns nicht für eine Anklage. Außerdem erfolgen auch Freisprüche, es kommt auch vor, dass der Tatverdächtige gar nicht der Richtige war, die Tat nicht begangen hat. Es werden Dinge umdefiniert, dass also die Polizei etwas als versuchten Totschlag aufgenommen hat, das Gericht stellt am Ende aber eine Körperverletzung fest. Die Zahlen aus der Kriminalstatistik bilden nur das ab, was die Polizei aus ihrer Sicht daraus macht. Wir wissen überhaupt nicht, was aus den Fällen geworden ist, ob es am Ende wirklich zu einer Verurteilung kam und falls ja, für welches Delikt.

Der zweite große Aspekt ist, dass die Polizei nicht alle Taten, die begangen werden, erfasst. Sie erfasst das, was ihr angezeigt wird, im Regelfall von Bürgern, manchmal auch von Behörden, und zu einem kleinen Teil erfasst sie auch das, was sie selbst ermittelt. Aber all das, was im Dunkelfeld bleibt, taucht natürlich nicht in der Statistik auf.

Für wie groß halten Sie dieses Dunkelfeld?

Man kann es nicht so pauschal sagen, weil es sehr auf das Delikt ankommt. Auf jeden Fall kann man sagen, bei den Sexualdelikten gibt es ein viel größeres Dunkelfeld als das Hellfeld. Man kann hingegen beim Auto-Diebstahl davon ausgehen, dass ein Großteil der Fälle angezeigt wird aus versicherungstechnischen Gründen. Bei Gewaltdelikten muss man auch sehr differenziert herangehen: Im Bereich der Partnerschaftsgewalt und der innerfamiliären Gewalt wird davon ausgegangen, dass sehr viele Fälle nicht zur Anzeige gebracht werden, und eben auch nicht bei der Polizei bekannt sind. Wenn es zu einem schwerwiegenden Gewaltdelikt im öffentlichen Raum kommt, wird es eher naheliegen, dass das auch bekannt wird, weil Opfer oder Dritte, oder Sanitäter eines hinzugerufenen Krankenwagens das weitergeben.

Wenn die Datenlage so umstritten ist, wie kann es dann sein, dass sie immer noch Grundlage für politische Forderungen ist?

Einerseits lassen sich bestimmte Dinge aus ihr ablesen. Wir können entnehmen, wo der Arbeitsaufwand der Polizei gestiegen oder gesunken ist. Für Personalplanung ist die Statistik durchaus zu brauchen. Solche Forderungen sind nicht per se unzulässig oder unplausibel anhand der Kriminalstatistik. Das größere Problem ist meiner Ansicht nach, dass die Statistik die einzige größere ist, die zur Verfügung steht. Wir haben natürlich auch Statistiken über den Geschäftsanfall bei der Staatsanwaltschaft, wir haben Statistiken über die gerichtliche Strafverfolgung oder auch den Strafvollzug.

Wenn man aber ein Bild der Kriminalität haben will, wenn man wissen will, wie die Sicherheitslage ist, dann ist die Polizeiliche Kriminalstatistik das nächstbeste, was es gibt. Das ist natürlich keine ideale Ausgangslage. Aber es ist eine Statistik, die wir haben und die sich gut eignet, um sich an ihr abzuarbeiten. Weil es jedes Jahr wieder funktioniert, dass man sagt: Wir haben mehr Fallzahlen registriert, also ist die Kriminalitätsrate dort gestiegen, oder dass man sagen kann, es gibt weniger Wohnungseinbrüche, dann kann man sich damit hinstellen und sagen: Da haben wir etwas erreicht. Diese Statistik ist dankbar als Instrument, auch wenn sie faktisch nicht dazu geeignet ist.

Aber diese Ableitung ist mit Vorsicht zu genießen.

Ja, beziehungsweise sie ist letztendlich nicht zulässig. Es wird gemacht, wird akzeptiert, die Öffentlichkeit nimmt das so an. Die Medien sind – zu großen Teilen, muss man leider sagen – dankbar für vereinfachte Darstellungen, freuen sich über vereinfachte Schlagzeilen: "Das ist besser, das ist schlechter". Aber streng genommen eignet sich die Statistik nicht als Gradmesser für die Sicherheitslage oder die Kriminalitätsentwicklung.

Autorin

  • Patel Verena
    Verena Patel Redakteurin und Autorin

Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Nachrichten, 9. April 2024, 6 Uhr