Interview

Bürgermeister Scherf gilt als guter Redner – als Teenager stotterte er

Er ist einer der bekanntesten Bremer. Im Interview mit uns zum Weltstottertag verrät Henning Scherf, was ihm geholfen hat – und in welchem Moment sein Vater weinte.

Altbürgermeister Henning Scherf vor dem Eingang zum Bremer Rathaus
Berühmter Redner und heimlicher Stotterer: Henning Scherf Bild: Imago | Eckhard Stengel

Herr Scherf, Sie haben als Jugendlicher gestottert. Wie hat Sie das geprägt?

Sehr, es hat mich sehr geprägt. Das war die anstrengendste Zeit in meinem Leben. Es begann, da war ich so zwölf Jahre alt, und ging dann bis etwa 15.

Was war so schlimm?

Die Lehrer haben mich bloßgestellt. Ich sollte beispielsweise vor die Klasse treten, dann hieß es: Lies mal vor. Und als ich dann zu stottern begann und Pausen machte, sagte der Lehrer nur: Na mal los, weiter, weiter.

Hielten die Lehrer Sie für dumm?

Dumm nicht, dazu hatte ich zu gute Noten. Es hieß: Der hat ein Handicap, der kann nicht mithalten mit den Anderen. Nur beim Singen war es anders, da war ich befreit von meinem Stottern – und ich war ein guter Sänger (er lacht). Doch wenn ich vorlesen musste, das war grässlich. Das hat mich später sogar noch verfolgt.

Sie haben unter diesem Stress die zehnte Klasse wiederholt.

Ja. Zuvor war ich auch einmal von der dritten in die fünfte Klasse gesprungen. Nach der zehnten Klasse habe ich dann die Schule gewechselt. Das war das finsterste Kapitel meines Lebens. Es ist wohl für jeden eine albtraumhafte Erfahrung, in der Pubertät nicht richtig sprechen zu können. Selbst wenn die Lehrer nett sind, wird man als Gezeichneter gedemütigt. Man muss Kindern wirklich Mut machen und ihnen sagen, das geht vorbei. Ihr müsst da aber durch.

Wie haben Sie das Stottern in den Griff bekommen?

Sehr geholfen hat mir ein anthroposophischer Sprachlehrer, der auch Schauspieler war. Er hatte am Dobben so einen Saal, der ganz blau gestrichen war. Dort habe ich in der einen Ecke des Raumes gestanden, er in der anderen. Dann hat er mich mit seinen Sprechübungen fast verzaubert. Ihm habe ich viel zu verdanken.

Gab es Rückschläge?

Als ich später zum Schulsprecher gewählt wurde, sollte ich vor Schülern, Lehrern und Eltern in einer Rede vortragen, was ich in meinem Amtsjahr vorhätte. Ich hatte mir auch ganz viel vorgenommen, dann aber Panik gekriegt. Schließlich bin ich sogar ins Krankenhaus gebracht worden. Dort stellte man fest, dass mir nichts fehlte. Die Versammlung war dennoch geplatzt.

Und dann?

Die Veranstaltung wurde wiederholt. Ich habe die komplette Rede auswendig gelernt. Und so hat es geklappt. Mein Vater saß hinten im Publikum. Er weinte. Er konnte nicht begreifen, dass sein Sohn jetzt vor der Schulgemeinde eine freie Rede hält und nicht mehr stottert.

Für Ihre freien Reden wurden Sie später bekannt.

Ja, das habe ich als Schulsprecher gelernt. Seitdem habe ich nur noch freie Reden gehalten. Ich habe immer alles auswendig gelernt. Es ist doch auch viel interessanter, wenn man den Leuten ins Gesicht blickt, wenn man mit ihnen spricht. Das ist auch viel überzeugender. Heute rate ich allen: Übt so lange, bis ihr das draufhabt. Hans Koschnick zum Beispiel konnte gar nicht vom Blatt lesen. Dem habe ich immer gesagt: Hans, schmeiß das Blatt weg.

Haben Sie Momente erlebt, in denen Sie das Stottern wieder eingeholt hat?

Immer wenn ich andere Stotternde erlebt habe, habe ich selbst wieder zu stottern begonnen. Auch im Senat weiß ich noch, dass ich 1995 meine erste Regierungserklärung schriftlich verteilt habe. Mit der Begründung: Es sei ja viel zu langweilig, das alles vorzulesen. In Wahrheit hatte ich im Hinterkopf, dass ich anderthalb oder zwei Stunden lang Regierungsdeutsch hätte vorlesen müssen. Die Grünen in der Opposition beklagten sich dann zwar. Ich habe mich dann aber auf die freie Rede berufen und mich damit auch durchgesetzt.

Haben Sie Ihre Rede zum 80. Geburtstag, den Sie am 31. Oktober feiern, schon auswendig gelernt?

Nein. Meine Frau will nicht, dass ich eine Rede halte. Sie will die Rede selbst halten. Ich komme diesmal also drumherum.

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Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Der Tag, 22. Oktober 2018, 23:30 Uhr

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