Interview

Russische Forscherin der Uni Bremen sieht Putin noch nicht am Ende

Putin während der offiziellen Zeremonie bei der Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten. Anlass: 77th Jahrestag des Sieges gegen Nazi-Deutschland.
Wladimir Putin im Mai dieses Jahres. Die Forscherin Galina Michaleva glaubt nicht, dass ihn Proteste gegen die Teilmobilmachung kurzfristig zu Fall bringen werden. Bild: dpa | TASS/Anton Novoderezhkin

Galina Michaleva lehrt in Moskau und in Bremen Politik. An ein baldiges Ende des Kriegs in der Ukraine glaubt sie nicht. Und auch nicht an ein schnelles Ende Putins.

Galina Michaleva ist sich nicht sicher, wie gefährlich es für sie ist, mit buten un binnen über Wladimir Putin und den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zu sprechen. Klar sei aber, dass Oppositionelle wie sie, die noch dazu in Russland lebten, grundsätzlich "immer in Gefahr" seien. Gleichwohl denke sie nicht daran, Russland zu verlassen, sagt die Politikwissenschaftlerin.

Michaleva lehrt an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau und engagiert sich zugleich in der sozialliberalen Oppositionspartei Jabloko. Außerdem ist sie assoziierte Professorin an der Forschungsstelle Osteuropa der Uni Bremen, der sie bereits seit den 90er Jahren eng verbunden ist.

Frau, Anfang/Mitte 60, mit rotem Haar vor Aktenschränken
Glaubt, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung, zumal auf dem Land, gar nichts über den Krieg Russlands gegen die Ukraine wissen will: Galina Michaleva. Bild: Radio Bremen

Frau Michaleva, seit Wladimir Putin Ende September die Teilmobilmachung russischer Streitkräfte angeordnet hat, sehen wir im Fernsehen immer wieder Bilder russischer Männer, die schnell das Land verlassen wollen, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Kippt jetzt die Stimmung in Russland gegen Putin?

Das glaube ich eher nicht. Manche Leute bei uns verstehen, was für eine Politik gerade gemacht wird. Andere denken darüber gar nicht nach. Aus ihrer Sicht hat das, was mit ihnen geschieht, nichts direkt mit Putin zu tun.

Das erscheint schwer vorstellbar, wenn man bedenkt, dass laut russischem Verteidigungsministerium 300.000 Reservisten mit militärischer Erfahrung mobilisiert werden sollen. Das muss doch weitreichende Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Was sind ihre Eindrücke?

Man munkelt sogar, dass in Wahrheit nicht nur 300.000, sondern über eine Million Menschen einberufen werden sollen. Trotzdem werden die Ereignisse in der Bevölkerung total unterschiedlich aufgenommen. Viele Leute, die in Großstädten leben wie in Moskau oder in St. Petersburg, versuchen zu fliehen. Sie gehen nach Georgien, nach Kasachstan, nach Armenien oder überhaupt: ins Ausland. Schätzungen zufolge sind schon ungefähr genauso viele Leute geflohen wie einberufen werden sollen.

Aber: Die Leute in der Provinz haben oft kaum eine Chance, Geld zu verdienen. Viele von ihnen gehen freiwillig in den Krieg, um das Geld zu verdienen, das ihnen versprochen wird. Es wird versprochen, dass Soldaten über 100.000 Rubel (derzeit rund 1.670 Euro, die Redaktion) im Monat verdienen sollen und Offiziere rund 300.000 Rubel. Das ist viel mehr Geld, als man üblicherweise in der russischen Provinz verdienen kann. Natürlich weiß man nicht, ob das Geld wirklich gezahlt wird. Es wird den Menschen aber immer wieder versprochen. Für getötete Soldaten werden den Familien sogar Entschädigungen in Millionenhöhe versprochen.

Autos und Busse stehen Schlange, um die Grenze von Russland nach Finnland am Grenzübergang Vaalimaa zu passieren.
Ein Bild aus dem September, nachdem Putin die Teilmobilisierung von Reservisten angekündigt hatte: Autos stehen Schlange, um die Grenze von Russland zu Finnland zu überqueren. Bild: dpa | Lehtikuva/AP /Sasu Makinen

Während Putin Reservisten mobilisiert, mehren sich die Meldungen zu Gebieten, die die Ukraine zurückgewonnen hat. Fühlt sich die russische Bevölkerung, auch jene in der Provinz, dadurch nicht verunsichert?

Was ich beobachte: Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung verfolgt diese Nachrichten. Die Leute wollen das gar nicht wissen. Sie leben ihr eigenes Leben und versuchen, das alles auszuklammern. So war das in Russland schon immer – auch bei dem Krieg in Afghanistan oder in Georgien oder in Syrien. Die Leute sagen einfach: "Das ist anderswo, das betrifft mich nicht." Erst, wenn es die Menschen wirklich unmittelbar betrifft, denken sie darüber nach. Aber das ist hier noch immer eine Minderheit.

In Deutschland rechnen viele damit, dass noch etliche russische Deserteure zu uns kommen könnten. Erwarten Sie ebenfalls eine große Flüchtlingswelle aus Russland Richtung Deutschland?

Nein, gar nicht. Schon deshalb nicht, weil derzeit die direkten Flugverbindungen dafür fehlen. Sie können aus Russland praktisch nur über Istanbul, Dubai oder Kairo zu uns fliegen. Und über den Landweg von Russland nach Deutschland zu kommen, ist auch kaum möglich.

Die Debatte darüber aber, wie sich Deutschland Deserteuren aus Russland gegenüber verhalten sollte, ist trotzdem bereits entbrannt. Was sagen Sie dazu: Wie sollten wir in Deutschland mit Geflüchteten aus Russland umgehen?

Genauso wie mit den Geflüchteten aus der Ukraine oder aus Syrien. Es handelt sich um Flüchtlinge, die aus politischen Gründen geflüchtet sind, weil sie nicht in den Krieg gegen ihre Nachbarstaaten ziehen wollen. Das muss man einfach unterstützen!

Ich bin sehr froh darüber, wie Geflüchtete in Deutschland grundsätzlich empfangen und akzeptiert werden und dass ihnen so viele Menschen helfen. Das wird in den russischen Medien oft anders dargestellt. Danach sind Flüchtlinge in Europa verhasst, da ist sogar von einer "Hasswelle" die Rede. Aber das sehe ich hier überhaupt nicht, und das freut mich.

Glauben Sie, dass die Teilmobilisierung russischer Streitkräfte den Anfang vom Ende der Ära Putin bedeutet, oder wird es eher dazu führen, dass Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nun schnell gewinnt?

Weder noch. Dass Putin irgendwann die breite Unterstützung der Bevölkerung verlieren wird – das ist unvermeidlich. Aber das wird nicht kurzfristig geschehen. Wir haben auch in anderen Ländern schon oft beobachtet, wie lange sich Diktatoren letztlich häufig halten können. Leider.

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Bild: Radio Bremen

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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 7. Oktober 2022, 19.30 Uhr