Sie war die erste Regierungschefin Bremens – und in Deutschland

Annemarie Mevissen stößt ein Jugend-Fußballspiel an (1974)
Bild: VG Bild | Andreas Bultmann

Stellvertretende Bürgermeisterin ist aktuell Maike Schaefer. Was heute normal ist, war es 1967 gar nicht. Annemarie Mevissen war die erste Frau bundesweit mit so einem Posten.

Annemarie Mevissen hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine beachtliche Karriere hingelegt: Sie war seit 20 Jahren Abgeordnete der Bürgerschaft und Senatorin. Geboren wird sie am 24. Oktober 1914 als Annemarie Schmidt. Sie wächst mit der Politik auf: Ihr Vater ist aktiver Sozialdemokrat in Bremen, er ist ein Vorbild für Annemarie. Sie will sich schon als Jugendliche politisch engagieren und tritt der Sozialistischen Arbeiter-Jugend bei.

Beruflich hat sie allerdings andere Pläne: Sie will Lehrerin werden. Aber das mit dem Studium wird erst einmal nichts, weil 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kommen und ihr Vater als "politisch unzuverlässig" gilt. Die junge Frau macht stattdessen eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Sie arbeitet einige Jahre in Leipzig, dort lernt sie ihren Mann Werner kennen.

Keine Frau sollte glauben, dass sie sich mit Härte durchsetzen kann, sondern sie muss mit Sachkenntnis kommen.

Annemarie Mevissen über Frauen in der Politik

1944 kehrt sie hochschwanger nach Bremen zurück. Nach dem Krieg beginnt ihre politische Karriere in der SPD. Die Historikerin Renate Meyer-Braun erzählt: "Da war nicht interessant, dass sie eine Frau war, sondern dass sie jung war, reden konnte und sozialdemokratisch politisiert war."

1947 schafft es Annemarie Mevissen mit 33 Jahren als Mutter von inzwischen zwei Kindern ins Landesparlament. Sie setzt sich für eine gerechtere Bildung ein, will Jugendlichen aus allen Schichten bessere Chancen ermöglichen. Sie gilt als Radikale. Dass sie als Frau eine besondere Rolle in der Politik hat, war ihr bewusst, erklärt sie später in einem Interview: "Eine Frau muss Sachkenntnis haben, sie muss überzeugen können, aber sie muss dabei Frau bleiben können. Ich meine nur, keine Frau sollte glauben, dass sie sich mit Härte durchsetzen kann, sondern sie muss mit Sachkenntnis kommen."

Von der Jugendsenatorin zur Bürgermeisterin

Annemarie Mevissen spricht mit Megaphon zu Tausenden Demonstranten
Annemarie Mevissen spricht mit Megaphon zu den Demonstranten bei den Straßenbahnunruhen in Bremen. Bild: dpa | Lothar Heidtmann

Diese Einstellung bringt sie dann 1951 vom Parlament in die Landesregierung. Auch wenn Mevissen sich für Schulpolitik einsetzt, wird sie nicht Bildungs-, sondern Jugendsenatorin. Das erfährt sie telefonisch auf einer Auslandsreise durch die USA. "Es war schon ein merkwürdiger Start in die Regierung der Freien Hansestadt Bremen," sagt sie später dazu.

Ihre ersten Jahre als Senatorin sind nicht leicht. Sie bekommt keinen Stab, hat nur ein kleines Büro und wenig Einfluss. "Das hatte Prinzip", sagt Renate Meyer-Braun, denn Mevissen sollte nicht eigenmächtig Politik machen, sondern Vorschläge, wie man der ziemlich alleingelassenen Jugend helfen könne. Diese Vorschläge sollten dann von anderen Ressorts umgesetzt werden. Mevissen hängt sich rein. Das zahlt sich aus: Sie bekommt die Verantwortung für die Wohlfahrts-, Sportpolitik und schließlich das große, einflussreiche Sozialressort. Im November 1967 wird Annemarie Mevissen dann stellvertretende Regierungschefin in Bremen. Sie ist 53 Jahre alt und gehört seit 16 Jahren dem Bremer Senat an.

Dies ist eine legale Demonstration.

Bürgermeisterin Annemarie Mevissen 1968 zu den demonstrierenden Schülern bei den Protesten gegen die Fahrpreiserhöhung der BSAG

Im Januar 1968 ist Mevissen erst wenige Monate Bürgermeisterin. Jetzt zeigt sie endgültig, was in ihr steckt: Eine Schülergruppe hat die Bahngleise an der Domsheide besetzt, um gegen höhere Fahrpreise der BSAG zu demonstrieren. Täglich kommen mehr Jugendliche dazu. Die Situation droht zu eskalieren, der Polizeichef ordnet an: "Draufhauen, draufhauen, nachsetzen!" Am fünften Tag fährt gegen Abend ein graues Auto vor, darin sitzt Annemarie Mevissen. Sie bahnt sich den Weg zu einer Streusalzkiste, steigt darauf und erklärt durch ein Mikrofon: "Dies ist eine legale Demonstration."

Politische Anstöße

v.r.n.l. unten: Wilhelm Kaisen, Annemarie Mevissen, Willy Dehnkamp; mitte: Karl Eggers, Georg Borttscheller, Ulrich Graf; oben: Karl Wessling, Hans Koschnick, Wilhelm Blase, Johann Diedrich Noltenius.
Senat 1963 mit Annemarie Mevissen in der ersten Reihe zwischen Wilhelm Kaisen und Willy Dehnkamp. Bild: dpa | Willy Pilzecker

Die Situation entspannt sich, die Unruhen lösen sich auf. Ihr Mut bringt Mevissen einen ungeliebten Titel ein: der einzige Mann im Bremer Senat. Sie hält von solchen Spitznamen wenig, will sich lieber mit Fachpolitik durchsetzen. Sie fordert mehr Kitaplätze, um Frauen den Weg in den Beruf zu erleichtern. Sie setzt sich für mehr Einrichtungen für Alte und Menschen mit Behinderungen ein, damit sie selbstbestimmt leben können. Damit gibt sie politische Anstöße, die bis heute nachwirken.

Ab 1968 prägt die Studentenbewegung den Parteinachwuchs. Mevissen kann damit nichts anfangen. Deswegen tritt sie 1975 nicht noch einmal zur Wahl an. Nach 23 Jahren als Senatorin zieht sie sich zurück. Zu diesem Zeitpunkt ist sie die dienstälteste Landesministerin der Bundesrepublik. Nach ihrer politischen Karriere widmet sich Mevissen der Malerei und schreibt Bücher.

Am 13. Juli 2006 stirbt die große Dame der Bremer Nachkriegspolitik mit 91 Jahren. Eine letzte Ehrung bekommt sie erst kurz vor ihrem Tod: Sie wird Ehrenbürgerin Bremens – als erste Frau überhaupt.

Autorin

  • Lisa-Maria Röhling
    Lisa-Maria Röhling Autorin

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, 10. Juli 2021, 13:40 Uhr