Wie Ben und Henry ihren Alltag mit Autismus meistern
Was für andere ein ganz normaler Alltag ist, ist für Familie Klüsener eine Wunschvorstellung. Die zwei Kinder sind Autisten und haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse.
7 Uhr morgens bei Familie Klüsener in Brettorf bei Niedersachsen. Heike Klüsener hilft ihrem zehnjährigen Sohn Henry beim Anziehen. Unterwäsche, Socken, Pullover und Jeans. Wenn sie Henry nicht unterstützt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass etwas vergessen oder falsch angezogen wird. Gleichzeitig hilft Jens Klüsener dem zwei Jahre jüngeren Sohn Ben bei der Morgentoilette. Er kontrolliert, dass die Zähne ordentlich geputzt werden und dass das Kämmen der Haare nicht vergessen wird.
Ben und Henry haben eine Autismus-Spektrums-Störung (ASS). Routinemäßige Abläufe können sie nicht eigenständig bewältigen. Deswegen sind die Eltern Jens und Heike ab dem frühen Morgen ständig im Einsatz.
In einer Familie mit ASS-Kindern läuft vieles anders: Gemeinsames Essen ist bei Familie Klüsener schwierig, Hausaufgaben machen nervenaufreibend, Ausflüge oder gar ein Urlaub zu viert geradezu unmöglich. Denn Ben und Henry sind zwar beide Autisten, haben aber ganz unterschiedliche Bedürfnisse.
Ganz unterschiedliche Brüder
Henry braucht ganz viel Ruhe und zieht sich gern in sein Zimmer zurück. Er benötigt Struktur und mag es, wenn sich sein Tagesablauf wiederholt. Spontanität bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Ben dagegen ist im Dauereinsatz. "Ben kann ohne Probleme drei Erwachsene gleichzeitig beschäftigen“, erzählt Heike Klüsener lachend. Ben hat nämlich neben ASS auch noch ADHS – eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Kinder mit ADHS haben in der Regel nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsschwierigkeiten. Außerdem sind sie oft überaktiv.
Das trifft auch auf Ben zu. Er ist immer in Bewegung und hat ganz viele Ideen, die er immer sofort umsetzen möchte. Am liebsten beschäftigt sich Ben allerdings mit Krabbeltieren. Sein Zimmer ist voller Terrarien, in denen einige außergewöhnliche Exemplare leben, wie zum Beispiel eine Afrikanische Posthornschnecke. "Wir haben Ben in dieser Leidenschaft immer unterstützt", sagt Papa Jens.
Er hat hier ein außergewöhnliches Wissen, das er gut und gerne weitergibt. Ein wandelndes Lexikon. Darüber hat Ben sich auch Selbstvertrauen geholt.
Jens Klüsener, Vater von Ben und Henry
Ben hat einige seiner Tiere schon in Kindergärten und in der Schule vorgestellt und damit sowohl Kinder als auch Erwachsene beeindruckt. Erstaunlich ist aber nicht nur die besondere Leidenschaft zu diesen Tieren, sondern auch die Ruhe und Ausdauer, mit der sich Ben mit ihnen beschäftigen kann.
Mit Autismus in der Schule
Die größte Herausforderung für die Klüseners ist die Schule. Für Autisten ist der Unterricht oft eine dauernde Reizüberflutung. Das ist sehr anstrengend. Sie nehmen alle Eindrücke ungefiltert und gleich stark wahr.
Während bei Henry – mit Hilfe einer Schulbegleitung – deutliche Fortschritte im Unterricht zu erkennen sind, hat Ben es sehr schwer. Auch er braucht dringend eine Schulbegleitung, aber die wurde gerade erst vom Jugendamt genehmigt und eine passende Person muss erst noch gefunden werden.
Zum Ende des ersten Schuljahres schlägt Bens Lehrerin Alarm: Ben ist zurzeit nicht beschulbar. Er kann sich nicht konzentrieren, nicht stillsitzen und stört den Unterricht. Wichtige Grundlagen der ersten Klasse fehlen ihm. Heike und Jens Klüsener machen sich große Sorgen.
Es ist einfach nicht das, was man sich für sein Kind wünscht. Man fragt sich: Wie geht es weiter? Müssen wir ihn von dieser Schule nehmen? Wird er auf eine Sonderschule müssen? Es war so hart zu hören, weil man weiß, dass er ein pfiffiges und kluges Kind ist. Und er bekommt ganz, ganz viel mit.
Heike Klüsener, Mutter von Ben und Henry
Medikation von ASS und ADHS
Heike und Jens treffen eine Entscheidung: Um Bens Leidensdruck zu lindern, wollen sie das Medikament Ritalin ausprobieren. Bens behandelnder Arzt, ein Kinder- und Jugendpsychiater, der sich unter anderem auf die Behandlung von ASS und ADHS spezialisiert hat, erklärt die Wirkung des Medikaments: Ritalin erhöht die Ausschüttung von Dopamin in den Hirnregionen, die Aufmerksamkeit und Konzentration steuern. Dadurch werden Betroffene ruhiger und können sich besser konzentrieren.
"Als wir Ben das Medikament das erste Mal gegeben haben, da hatte er wirklich Tränen in den Augen und hat gesagt: 'Mama, ich hoffe so sehr, dass die Schule jetzt für mich leichter wird'", erzählt Heike Klüsener. Ein paar Wochen versuchen es die Klüseners mit Ritalin. Eine emotionale Achterbahnfahrt.
Nebenwirkungen von Ritalin
Ben kann sich zwar deutlich besser konzentrieren und holt in der Schule auf, aber er hat schwer mit den Nebenwirkungen des Medikaments zu kämpfen. Ihm ist übel und er schwankt zwischen extremen Wutausbrüchen und depressiven Phasen.
Ben hatte wahnsinnige Aggressionen. Gegen sich selbst gerichtete Aggressionen. Bei Kleinigkeiten, die wir teilweise nicht erkannt haben, ist er sofort explodiert. Wirklich von jetzt auf gleich.
Jens Klüsener, Vater von Ben und Henry
Kurz danach ein Hoffnungsschimmer: Heike Klüsener hat endlich eine passende Schulbegleitung für Ben gefunden, die ihn ab sofort im Unterrichtsalltag unterstützt. "Wir haben das Gefühl, dass es auf jeden Fall bergauf geht. Ben fühlt sich gut aufgehoben bei ihr und weiß, dass sie ihm in schwierigen Situationen zur Seite steht. Ich glaube, es macht schon viel aus, dass er den Schulalltag nicht alleine bewältigen muss", sagt die Mutter optimistisch.
"Die Kinder sind wunderbar"
Die täglichen Herausforderungen für die Familie Klüsener bleiben und die Eltern stehen immer wieder vor Gewissensfragen: Ist es richtig, Ben auf einer "normalen" Schule zu lassen? Welche Medikamente sind vertretbar? Unterstützen wir die Kinder ausreichend?
Trotz all dieser Anforderungen gehen Heike und Jens Klüsener jeden Tag mit Optimismus und Zuversicht an: "Die Kinder sind wunderbar, so wie sie sind. Ich gehe absolut positiv an die Zukunft. Ich bin ganz gespannt, wie die Kinder sich entwickeln. Und ich freue mich wirklich auf alles, was ich mit den Beiden noch so erlebe", schließt Heike lächelnd ab.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 2. April 2024, 19:30 Uhr