Autismus als Erwachsene? Bremerin musste lange auf die Diagnose warten
Schon als Kind bemerkte die 37-Jährige, dass sie anders war als Mitschüler. Doch als Autistin diagnostiziert wurde sie erst als Erwachsene. Bis dahin war es ein langer Weg.
Juna kommt aus der Bremer Neustadt. Die 37-Jährige spürt die Auswirkungen ihres Autismus' schon als kleines Kind – damals hatte sie noch keine Diagnose. In der Grundschule bleibt sie eine Außenseiterin: "Ich habe alles verloren, also meinen Job. Meine Ausbildung war fertig, und das war auch nicht so gut auseinander gegangen. Mein Partner wusste nicht mehr, wie er mir helfen soll. Ich hatte Zusammenbrüche, Ausraster. Jetzt weiß ich, dass das wohl so Meltdowns waren." Meltdowns sind reflexartige Handlungen, die Autisten nicht kontrollieren können. Mit der Zeit entwickelte Juna einen sehr großen Selbsthass, da sie nicht mehr so funktioniert, wie sie eigentlich sollte, erzählt sie.
Lange Suche nach Therapeuten
Juna leidet an der Autismus-Spektrum-Störung. Das ist eine Entwicklungsbeeinträchtigung, bei der sich Auffälligkeiten im Bereich der sozialen Interaktion und der Kommunikation zeigen. Smalltalk kann zum Beispiel für autistische Menschen schwierig sein. Auch stereotype Verhaltensweisen können vorkommen, wie ein Augenflattern oder eine sich wiederholende Bewegung der Arme. Dass Juna schon in der Grundschule Unterschiede an sich im Vergleich mit anderen Kindern bemerkt, ist nichts Ungewöhnliches – je nach Form der Erkrankung sind Symptome schon ab dem zweiten Lebensjahr bei Autisten erkennbar.
Für Juna wird der Weg zur Diagnose jedoch sehr lang: Sie wird von Praxis zu Praxis geschickt. Richtig helfen kann ihr aber niemand. Dann entdeckt sie das Autismus-Therapie-Zentrum in Bremerhaven. Dort wird sie vor wenigen Wochen offiziell mit der Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert: "Ich habe ein halbes Jahr gewartet auf den ersten Termin. Man könnte nebenbei schon mal die Therapie machen, weil Basics wie Traumatherapie bei Autisten sehr wichtig sind."
Die lange Zeit bis zur Feststellung dieser Störung ist die Regel, bestätigt auch Anas Nashef. Er ist der Leiter des Autismus-Zentrums in Bremerhaven, in Debstedt, in Cuxhaven und in Hagen im Bremischen. Bei Erwachsenen könne eine Diagnose Jahre dauern.
Man kann die Situation als Notstand bezeichnen. Es gibt eine ganz große Versorgungslücke.
Anas Nashef, Leiter des Autismus-Therapie-Zentrums in Bremerhaven
Mehr Menschen werden mit Autismus diagnostiziert
Rund ein Prozent der Menschen in Deutschland leiden an der Autismus-Spektrum-Störung. Rechnet man das auf das Land Bremen runter, sind das rund 6.000 Menschen. Laut der Krankenkasse hkk habe sich bei ihren Versicherten eine deutliche Steigerung der diagnostizierten Autistinnen und Autisten abgezeichnet.
Mittlerweile wird Autismus auf Grund vermehrter Diagnosen häufig als Modeerkrankung abgetan. Über den Vorwurf kann Nashef nur müde lachen. Für viele Klientinnen und Klienten seien solche Sprüche zermürbend. Außerdem gibt es gute Gründe dafür, dass mehr diagnostiziert wird. So wurde zum Beispiel das Asperger-Syndrom, ebenfalls eine Autismus-Spektrum-Störung, erst 1991 als Diagnose anerkannt. "Das ist eine Diagnose, die als relativ frisch bezeichnet werden kann. Da ist es tatsächlich kein Wunder. Natürlich gibt es Erwachsene, bei denen es diese Diagnose damals nicht gab. Jetzt gibt es sie und jetzt informieren sie sich."
Bis vor einigen Jahren wurden zudem deutlich weniger Frauen diagnostiziert, erzählt Nashef. Die Wissenschaft geht nämlich davon aus, dass sie es schaffen, sich besser anzupassen. Dadurch können offenbar viele ihre Erkrankung gut verstecken.
Unser Bild von Autisten in der Gesellschaft ist auch durch Serien und Filme geprägt. Darin zeichnet sich oft ein positives Bild ab: Sei es ein penibler Monk oder ein superschlauer Sherlock. Sie alle sind irgendwie besonders auf ihre Art, können soziale Situationen nur bedingt lesen und sind trotz unpassender Sprüche irgendwie liebenswert. Dass auch autistische Charaktere einen Platz im TV haben, findet Juna gut. Ganz besonders toll findet sie "The Good Doctor".
Dort konnte ich vieles mitfühlen und dort werden auch Lösungen geboten. Das finde ich großartig. Das ist mit die beste Serie oder Film was ich bis jetzt finden könnte.
Juna, Autistin aus Bremen
Autismus als Superkraft
Für die Zukunft wünscht sie sich vor allem eins: Sie will Autismus nicht länger als Schwäche sehen. Sondern ähnlich, wie in vielen Serien und Filmen, als Superkraft: "Beim Orchester zum Beispiel ist das ziemlich gut. Vor allem sind meine Körperreaktionen auch enorm. Also ich habe dann so Gänsehautschauer und mir laufen Tränen. Und ich habe einfach so eine Freude. Also je nachdem, wie die Tonart ist und so eine Intensität an Gefühlen. Das ist überwältigend."
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 25. Oktober 2023, 19:30 Uhr