Afghanen in Bremen bangen um Verwandte und hoffen auf Aufnahmeprogramm

Frau schaut nachdenklich aus dem Fenster.
Frau schaut nachdenklich aus dem Fenster.

Afghanen in Bremen bangen um Verwandte und hoffen auf Aufnahmeprogramm

Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Seit über einem Jahr versuchen mehrere afghanische Geflüchtete in Bremen, ihre Angehörigen nachzuholen. Kann ein neues Aufnahmeprogramm ihnen helfen?

Donya und Aalem Mullah* sitzen auf den weißen Sofas ihres Wohnzimmers in einem Mehrfamilienhaus in Bremen-West, draußen ist die Luft kalt, drinnen verleihen orientalische Zierstücke in Gold und Weiß dem Raum eine warme Note. Auf dem Couchtisch liegt zwischen Mandeln und Pistaziennougat in Silberschälchen ein Stapel Dokumente. Aalem blättert nachdenklich hinein, zeigt ausgedruckte Bilder, Kopien von Urkunden. "Das ist er", sagt er und deutet auf einen Mann im Anzug, der in einem Konferenzraum sitzt und mitschreibt.

Der Mann ist Aalems Bruder. Er lebt nicht in Bremen, sondern versteckt sich in Afghanistan. Vor den Taliban, die am 15. August 2021, knapp zwanzig Jahre nach Beginn des US-geführten Kriegs gegen die Islamisten, wieder an die Macht gelangt sind. Nun machen sie Jagd auf Menschen, die sie jahrelang bekämpft haben.

So erzählt es das Ehepaar. Der Bruder sei ein ehemaliger Regierungsmitarbeiter, der Reden für den letzten Präsidenten geschrieben und sich gegen die Taliban eingesetzt habe. "Je mehr Zeit vergeht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn finden", sagt Aalem. In seiner Stimme schwingt eine Mischung aus Verzweiflung und Resignation mit.

"Mein Bruder wurde festgenommen und geschlagen"

Wenige Tage später, in einem Schlafzimmer eines Bremer Flüchtlingsheims. Ibaad* sitzt an einem Holztisch und hält einen Kugelschreiber in der Hand. Vor ihm ein Pflanztopf mit einem weißen, glitzernden Weihnachtsstern und ein geöffnetes Heft: zwei Seiten, auf Englisch handgeschrieben. Es ist eine Rede, die er vorlesen will. Dabei dankt er im gehobenen Stil der deutschen Regierung und bittet die Institutionen, seine Familienmitglieder nach Deutschland zu bringen.

Ein Heft liegt geöffnet auf einem Tisch, darauf ist die Hand einer Person zu sehen.
Ibaad* sagt, seine frühere Tätigkeit beim afghanischen Militär bringe seine Angehörigen in Gefahr. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Ibaad ist ein drahtiger 34-jähriger Mann. Bis Sommer 2021 war er ein Offizier der afghanischen Armee, seit einem Jahr ist er ein Geflüchteter in einer deutschen Aufnahmeeinrichtung. Jemand, der nach eigenen Angaben Schulter an Schulter mit Europäern gearbeitet hat. Kurz nach der Machtübernahme wurde er evakuiert, seine Eltern und ein jüngerer Bruder seien in der Menge am Flughafen von ihm getrennt worden, sie blieben zurück. Ibaad sagt, dreimal hätten die Taliban sein Haus durchsucht, den Bruder festgenommen und geschlagen. Er zeigt Bilder von einem jungen Mann mit Blutergüssen am Körper, Videos von bewaffneten Männern in einem Jeep auf der Straße.

Versuche bislang erfolglos

"Es ist schwierig für mich, das lässt mich unwohl fühlen, weil meine Mutter in einer gefährlichen Lage ist", sagt die 36-jährige Aliah*, während ihr Ehemann sein Smartphone zeigt. Auf dem Bildschirm sind Bilder von jungen Frauen in Hidschab zu sehen, die auf dem Boden im Halbkreis vor einer Frau sitzen. "Sie arbeitete mit den Frauen auf dem Land, und das ist sehr gefährlich. Damals schon", erzählt ihr Ehemann. Aliah, eine junge Frau mit langen, offenen Haaren, lackierten Fingernägeln und westlichen Klamotten, sagt, ihre Mutter hätte wegen ihrer NGO-Mitarbeit in Afghanistan gerade "keinen sicheren Ort" mehr.

Unterschiedliche Geschichten, unterschiedliche Lebenssituationen, doch ein gemeinsames Anliegen. Diese Menschen, so erzählen sie, haben Angehörige in Afghanistan, die sie aufgrund ihrer Arbeit mit westlichen NGOs oder ihrer Nähe zu Journalisten und Offizieren als gefährdet einschätzen. Seit Monaten versuchen sie, sie nach Deutschland zu bringen. Bislang ohne Erfolg.

Er lebt in Angst, auch wegen seiner Kinder und seiner Frau. Versteckt, kann nicht arbeiten. Die Lage ist sehr schwierig. Die Angst ist ständig da, dass jemand kommt, dass er festgenommen wird.

Donya Mullah*, Angehörige

Sie schicken E-Mails und Dokumente an NGOs, an Ministerien, immer wieder. Mal, so erzählen sie, komme gar nichts zurück, mal komme die Nachricht, die Stelle sei nicht zuständig oder andere gefährdete Gruppen hätten momentan Priorität.

Ich habe schon letztes Jahr Mails geschickt und telefoniert, alle Telefonnummern, alle Daten gegeben. Aber bis jetzt haben wir noch keine Antwort bekommen.

Schwester von Ibaad*

Für die Angehörigen ist die Lage ebenfalls schwierig

So unterschiedlich ihre Lebenslagen auch sind, sie alle eint die Verzweiflung in ihren Erzählungen. So berichtet Donya Mullah, ihr Schwager habe zwei seiner Töchter auf die Schnelle verheiratet, eine noch minderjährig. Aus Angst, dass sie sonst als ledige junge Frauen in die Hände der Taliban fallen könnten. Denn es seien Gerüchte herumgegangen, die neuen Herrscher würden versuchen, junge Ehefrauen zu finden.

Er ist eine Person, die sich dafür eingesetzt hat, dass seine Töchter die Schule beenden, studieren und was werden. Jetzt weint er und sagt, 'Meine Größten musste ich verheiraten, was passiert mit meinen Kleinen?' Sie dürfen jetzt ja nur bis zu einer bestimmten Klasse in die Schule.

Donya Mullah*, Angehörige

Für die Angehörigen in Deutschland ist die Lage ebenfalls schwierig. Manch eine sagt, wenn sie von ihren Familienmitgliedern einen Tag lang nicht höre, sei sie sofort besorgt.

Sie können nachts nicht ruhig schlafen. Und wir sind auch nicht ruhig.

Schwester von Ibaad*
Eine junge Frau blickt auf Dokumente.
Angehörige zeigen auf Nachfrage Dokumente, Zertifikate und Bilder, die die Aktivitäten ihrer Familienmitglieder nachweisen sollen. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Sie zeigen Mails, Zertifikate, Referenzen, Ausweise, Fotos, Videos. Nicht alle können unabhängig überprüft werden. Berichte von Menschenrechtsorganisationen bestätigen jedenfalls, dass im letzten Jahr Aktivisten, Journalisten und Regimekritiker festgenommen und teilweise gefoltert oder getötet worden sind.

NGO: Mehr als 150 Anfragen seit Machtübernahme

Es sind nur drei Familien, aber es gibt offenbar weit mehr in ihrer Lage. Alleine der Bremer Verein 4Humanity hat nach eigenen Angaben über 155 Anfragen aus dem Land Bremen bekommen, nur bei dreien seien Angehörige bislang nach Deutschland gekommen. Der Vorsitzende Hoshang Arian beklagt, dass es nicht ganz klar sei, wer Vorrang habe und wer nicht.

Viele haben mit Ausländern gearbeitet, viele sind Ortskräfte, aber wer kommt als Erster, wer kommt als Zweiter? Die Lage ist sehr, sehr schwer.

Ein Mann mit lockigen, braunen Haaren und braunen Augen blickt in die Kamera.
Hoshang Arian, Vorsitzender 4Humanity

Zu den bisherigen Aufnahmen aus humanitären Gründen heißt es aus dem Auswärtigen Amt, es handele sich um "komplexe Einzelfallverfahren". In Betracht kämen Personen, die sich in besonders herausragender und langjähriger Weise in den Bereichen Journalismus, Politik oder Menschenrechte exponiert hätten und dadurch unmittelbar gefährdet wären.

Neues Bundesaufnahmeprogramm seit Mitte Oktober

Einen Funken Hoffnung gab es Mitte Oktober, als das neue Bundesaufnahmeprogramm beschlossen wurde. Doch auch der neue Weg dürfte kein leichter sein. Denn die Kandidaten können sich nicht direkt bewerben. Es sind zivilgesellschaftliche Organisationen, meistens nicht öffentlich bekannt, die sie vorschlagen. Und momentan würden sowieso nur die Fälle bearbeitet, die bereits vorliegen, so steht es auf der Webseite.

Ein junger Mann sitzt draußen auf einem Holzstuhl.
Hoshang Arian kommt aus Afghanistan und hat kürzlich die NGO 4Humanity mitgegründet, die afghanischen Familien helfen soll. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Ein Verfahren, das für Kritik seitens mehrerer NGOs gesorgt hat. Kompliziert, intransparent, unklar, man verlasse sich bei Auswahl und Reihenfolge viel zu sehr auf Computerprogramme, hieß es. "Ich bin ein bisschen enttäuscht", sagt Arian. Es wecke Hoffnungen, ohne Lösungen zu bieten, schreibt der Verein Proasyl.

Das Programm hat unter den hilfesuchenden Afghan:innen Hoffnung und gleichzeitig Enttäuschung verursacht.

Proasyl

RSF: Noch einige Unklarheiten

Auch die NGO Reporter ohne Grenzen (RSF) findet das Programm in mehreren Punkten problematisch. Noch gebe es Unklarheiten und Unsicherheiten, die für die Betroffenen zur Belastung werden.

Wir begrüßen sehr, dass es ein Aufnahmeprogramm gibt. Wir würden uns aber wünschen, dass alles ein bisschen schneller läuft.

Stephanie Huber-Nagel, Reporter ohne Grenzen

Eine Webseite, die RSF online gestellt hatte, um Anfragen zu sammeln, musste wieder offline genommen werden, da zu viele Nachrichten von Nicht-Journalisten kamen. "Es waren auch Polizisten oder Aktivistinnen dabei", sagt eine Sprecherin.

Auswärtiges Amt: Jeder Fall wird händisch geprüft

Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, man informiere auf der Webseite des Programms sehr ausführlich und es gebe für die Auswahl festgelegte Kriterien. Eine Koordinierungsstelle soll die Organisationen unterstützen.

"Zur Umsetzung des Bundesaufnahmeprogramms wurde außerdem vom BMI eine neue IT-Anwendung für die Vorauswahl entwickelt", schreibt das Auswärtige Amt weiter. "Jeder Fall wird händisch geprüft und eingegeben." Die Aufnahme von Ortskräften erfolge außerdem nach einem gesonderten Verfahren.

Sobald eine ausreichende Zahl von Meldungen vorliegt, wird eine erste Auswahlentscheidung durch die Bundesregierung getroffen, daran anschließend werden die für die Aufnahme ausgewählten Personen bei ihrer Ausreise aus Afghanistan unterstützt. In der Zwischenzeit werden weiterhin die Ortskräfte und diejenigen Personen unterstützt, die bereits zuvor von der Bundesregierung als besonders gefährdete Personen Aufnahmezusagen erhalten haben.

Auswärtiges Amt

Landesaufnahmeprogramm noch nicht gestartet

Bremen wollte ebenfalls ein eigenes Landesaufnahmeprogramm ins Leben rufen. Noch ist dies aber nicht gestartet, wie das Innenressort bestätigt. Man warte auf das grüne Licht des Bundesinnenministeriums. "Wir sind in der Endabstimmung, und es geht nur noch um Kleinigkeiten", so eine Sprecherin.

Angehörige von in Bremen lebenden Afghanen und Afghaninnen sollen aufgenommen werden. Dabei gebe es keine festgelegte Obergrenze, allerdings solle sich der Senat, nachdem 90 Personen aufgenommen werden, "mit der Frage der Möglichkeit einer Fortsetzung befassen". Bislang haben seit Sommer 2021 insgesamt 228 Menschen aus Afghanistan eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen in Bremen bekommen.

* Namen von der Redaktion geändert.

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Bild: Radio Bremen

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Autorin

  • Serena Bilanceri
    Serena Bilanceri Autorin

Dieses Thema im Programm: Bremen Next, 19. Dezember 2022, 17:20 Uhr