Interview

Wieso so viele Kinder in Bremen und Bremerhaven zu dick sind

Übergewichtige Kinder beim Sport
Übergewichtige Kinder sieht man in Bremen seit Corona noch öfter als vor Ausbruch der Pandemie. Bild: dpa | Waltraud Grubitzsch

Immer mehr Kinder in Bremen sind zu dick. Sie ernähren sich falsch und bewegen sich seit Corona zu wenig. Es gibt aber noch mehr Gründe. Eine Ernährungsberaterin berichtet.

Die Zahl der Ernährungsberatungen in Bremen für Kinder und Jugendliche ist seit drei Jahren stark gestiegen. 2019 bekamen allein in der Stadt Bremen 140 Kinder und Jugendliche eine Ernährungsberatung vom Kinderarzt verordnet, 2021 waren es 240. Antje Büssenschütt vom Zentrum für Adipositas in Bremen (ZAB) sieht in diesen Zahlen auch einen Ausdruck der psychosozialen Probleme, die seit Corona in vielen Familien enorm zugenommen hätten. Wir sprachen mit ihr über die Ursachen und über mögliche Lösungen.

Frau Büssenschütt, Sie stellen fest, dass Kinderärzte in Bremen seit Ausbruch der Corona-Pandemie immer mehr Ernährungsberatungen verordnen, meist, weil die betroffenen Kinder stark übergewichtig sind. Die schlimmste Corona-Zeit ist inzwischen aber wohl vorüber. Verliert die Ernährungsberatung für Kinder damit wieder von selbst an Bedeutung?

Nein. Wir werden noch lange mit den Folgen zu tun haben. Am Anfang der Corona-Pandemie waren viele Kinder erst einmal in einer Schock-Situation, gerade in ihrem Lebensalltag. Man konnte sich auf nichts verlassen. Im zweiten Jahr der Pandemie verschlechterte sich für viele Kinder und Jugendliche die finanzielle und familiäre Situation. Ihre sozialen Kontakte waren zum Teil weggebrochen. Und das Aufeinander-Angewiesen-Sein der Familien in oft engen Räumen führte bei vielen zum Rückzug. Sie sind nicht mehr rausgekommen, haben sich wenig bewegt und Ablenkung über Medien gesucht. Viele Kinder und Jugendliche haben bereits im Jahr 2021 stark zugenommen.

Heute aber gibt es keinen Lockdown mehr. Auch die Bewegungsangebote sind im Wesentlichen wieder vorhanden…

Zumindest zum Teil. Trotzdem sehen wir heute bei den Jugendlichen, dass sie sich weiter zurückziehen. Ich spreche jetzt nicht von denjenigen, denen es gut geht, sondern von denen, die ohnehin massive Probleme haben, wie eben starkes Übergewicht, unter dem sie leiden, vielleicht auch schon Folgeerkrankungen. Bei diesen Kindern sehen wir eine Resignation. Sie sehen keine Perspektiven. Der entscheidende Faktor dabei ist das mangelnde Selbstvertrauen. Es bedarf viel Arbeit im psychosozialen Bereich, um die Ressourcen dieser Kinder wieder zu stärken, damit sie eine Motivation für ihr Leben aufbauen.

Anteil übergewichtiger Kinder im Land Bremen zur Einschulung

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Wie gehen Sie vor, wenn Sie mit solchen Kindern zu tun haben? Wie motiviert man stark übergewichtige Kinder dazu, etwas zu ändern?

Erst einmal muss man klären: Was sind die größten Schwierigkeiten? Was trauen sich die Kinder zu, was trauen sie sich überhaupt nicht zu? Man muss die Päckchen, die die Kinder mitbringen, öffnen und gucken: Was ist das Dringendste? Dann muss man gucken, was die Kinder können – und sie darin bestärken. Damit sie an Selbstbewusstsein gewinnen und damit an Motivation. Das Andere ist: Man muss auch betrachten, was die Kinder nicht können. Gerade in Bezug auf das Essen ist die Familie gefragt. Sie kann überlegen, was im Alltag verändert werden kann, damit etwa Verführung zum Essen oder das heimliche Essen offen beredet werden können. Damit man eine Veränderung herbeiführen kann.

Apropos Veränderung: Sie haben bereits angesprochen, dass sich viele Kinder und Jugendliche seit Corona noch mehr mit Handys und Computern beschäftigen statt leibhaftige soziale Kontakte zu pflegen. Wie kann es gelingen, diese Kinder zu einer Veränderung zu bewegen, dazu, wieder mehr unter Menschen zu kommen?

Man muss sie langsam und altersangemessen damit konfrontieren, was Medienkonsum bedeutet. Medienkonsum hat immer zwei Seiten. Er ist auf der einen Seite wichtig, um sich zu informieren, auch schulisch gesehen. Auf der anderen Seite ist übermäßiger Medienkonsum schädlich. Es gibt Kinder und Jugendliche, die bis zu zwölf Stunden am Tag vor dem Computer sitzen und sich daher kaum noch bewegen. Das muss abgebaut werden.

Aber nicht negativ, in dem man den Kindern Vorwürfe macht, weil sie zu viel vor dem Computer sitzen. Man muss ihnen Vorschläge machen, was sie tun könnten. Man kann ihnen beispielsweise auch zeigen, welche gymnastischen Übungen sie einbauen können, die sie auch mit Freunden zusammen machen können. Es kommt darauf an, den Jugendlichen einen Input zu geben, wie sie sich langsam aus ihren Mustern heraus bewegen können.

Leider haben die Sportvereine Probleme. Es fehlt an Übungsleitern. Wenn Jugendliche mit einer Bewegungsbeeinträchtigung, sagen wir einma zwölf bis 14-Jährige, in einen Verein kommen, um Sport zu treiben, dann gibt es dort für sie praktisch keine Angebote. Denn da liegt der Fokus dann in der Regel schon auf dem Leistungsbereich. Da fallen diese Jugendlichen dann unter Umständen erst einmal raus.

Wie könnte man konkret Abhilfe schaffen?

Wir vom Zentrum für Adipositasschulung führen zweimal die Woche Schulungen durch, die zu etwa 50 Prozent aus Bewegung bestehen. Der Schwerpunkt liegt auf der Kräftigung und auf der Ausdauer. Das ist aber nur etwas für eine kleine Gruppe. Wir bieten außerdem Fortbildungen für Vereine an, damit diese sich des Themas annehmen und Angebote für alle Kinder schaffen, nicht nur den Leistungssport im Vordergrund sehen.

Was kann man bei kleineren übergewichtigen Kindern tun, um ihnen zu helfen, beispielsweise bei denen, die erst eingeschult werden?

Gerade da ist es wichtig, die Betreungs- und Bezugspersonen, insbesondere die Eltern dazu zu motivieren, dass sie ihre Kinder für Breitensport begeistern. Wir hören noch immer oft: "Wegen Corona findet das alles nicht statt." Aber das stimmt natürlich nicht. Es findet durchaus eine ganze Menge wieder statt. Man muss allerdings ein bisschen danach suchen und dann auch dabei bleiben. Kinder sollten auf jeden Fall ein- bis zweimal pro Woche Sport haben.

Sie sprechen die Verantwortung der Eltern an. Welche Rolle spielen die Eltern für und in Ihrer Ernährungsberatung?

Eine entscheidende Rolle. Eltern sind diejenigen, die einkaufen. Sie sind diejenigen, die den Kindern vorleben, wie man isst. Wenn wir beispielsweise sehen, dass ein Kind sehr schnell isst, ein Elternteil aber auch sehr schnell isst, und das Elternteil dann sagt: "Ne, das kann ich mir nicht abgewöhnen" – dann versuchen wir auf wertschätzender Ebene zu einer Regelung zu kommen, die für alle klar, verbindlich, aber auch aushaltbar ist. Dabei ist wichtig, dass alle Personen an der Lösung beteiligt werden, aber nicht auf Befehlsebene. Denn das bringt gar nichts.

Wieso soll man nicht schnell essen?

Wer schnell isst, nimmt in kurzer Zeit große Mengen zu sich. Das Sättigungsgefühl hat kaum eine Chance, sich rechtzeitig bemerkbar zu machen. Auf diese Weise isst man dann zu viel. Man sollte sich beim Essen daher immer Zeit nehmen und ausreichend lange kauen. Essen ist doch etwas Schönes! Aber auch in der Schule haben die Kinder meistens viel zu wenig Zeit, um die Mittagsmahlzeit zu sich zu nehmen.

Betrachtet man die Zahlen der übergewichtigen Kinder bei Schuleingangsuntersuchungen im Land Bremen, so fällt auf, dass der Anteil der übergewichtigen Kinder in Bremerhaven seit Jahren noch höher ist als in Bremen. Woran könnte das liegen?

Untersucht haben wir das nicht. Aber es könnte an der schwächeren finanziellen Ausstattung in Bremerhaven und den schwierigen sozialen Strukturen liegen. Auch größere Entfernungen zu Sportvereinen könnten eine Rolle spielen. Denkbar ist auch, dass viele Kinder, die eigentlich zu einem Kinderarzt gehen müssten, bei Ärzten für Erwachsene in Behandlung sind. Es gibt gute Gründe dafür, dass Kinder zu Kinderärzten gehen sollten. Ich kann das aber alles nur vermuten.

Was muss sich generell in unserer Gesellschaft ändern, damit sich die Situation wieder normalisiert, damit weniger Kinder die Hilfe der Ernährungsberatung benötigen?

So lange Milliarden für kinderbezogene Nahrungsmittel-Werbung wie für Süßigkeiten ausgegeben werden, wird es schwierig bleiben. Auch, wenn wir uns vorstellen, dass der Zuckergehalt der meistgekauften sogenannten Müslis oder Cerealien oft bei über 25 Prozent liegt. Das ist schon heftig! Da müssen einige Sachen in Ordnung gebracht werden.

Wichtig ist aber auch, dass den Kindern Angst genommen wird. Für manche Kinder mit starkem Übergewicht ist der Weg zur Schule ein Spießrutenlauf. Sie werden geärgert und geschlagen. Das Übergewicht bekommt dadurch eine neue Funktion: Es steht für ein "Lass-mich-in-Ruhe" und damit für den Rückzug.

Es nicht richtig, dass Kinder bei uns, sobald sie etwas größer sind, etwas dicker oder etwas dünner, gleich zu Ausnahmen gemacht werden. Kinder müssen integriert bleiben. Unsere Gesellschaft muss mehr Toleranz entwickeln und weniger diskriminieren. Das ist es, was sich vor allem ändern muss.

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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 18. November 2022, 19.30 Uhr