Interview

Forensik: Wie man Menschen hilft, die anderen das Leben nahmen

Heimat oder Endstation? Das Leben in der psychiatrischen Forensik

Bild: dpa | Carsten Rehder

Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um schwere Straftaten und psychische Erkrankungen. Für einige Menschen kann das belastend oder retraumatisierend sein.

Sie gelten oft als gefährlich: Patienten in der forensischen Psychiatrie. Sie haben schwerste Straftaten begangen. Psychiater Dominik Dabbert sagt: Sie sind krank, nicht böse.

Seine Arbeit wirkt auf manche unheimlich und undurchschaubar. Dominik Dabbert ist Chef der forensischen Psychiatrie im Klinikum Bremen-Ost. Die Patienten dort haben teils schwerste Straftaten begangen. Ursache ist aber eine psychische Erkrankung oder eine Sucht, weshalb sie dafür nicht verantwortlich gemacht werden können. Statt im Gefängnis sind sie in einer Klinik.

Porträt von Dr. Dabbert
Dominik Dabbert ist Chefarzt in der forensischen Psychiatrie im Klinikum Bremen-Ost. Bild: privat

Dominik Dabbert arbeitete 20 Jahre lang in der Allgemeinpsychiatrie und wechselte dann in die Forensik. Dort könne er bessere Behandlungserfolge erzielen, sagt er und erklärt, wie das gelingt und wann ein straffällig gewordener Patient wieder freikommt.

Herr Dabbert, was ist das schlimmste Delikt eines Ihrer Patienten – wo Sie aber sagen: Wir haben den besten Behandlungserfolg herausgeholt?

Da gibt es zwei Patienten, die mir sehr präsent und in Erinnerung geblieben sind. Beide kannte ich schon aus der Allgemeinpsychiatrie, beide mit dem Hintergrund einer Schizophrenie. Und da war das bei beiden so, dass sie sich jeglicher Form von Behandlung entzogen haben; sie wurden auch schnell wieder entlassen.
Der eine hat dann später eine öffentlichkeitswirksame Straftat in Bremen begangen. Er hat Menschen mit dem Messer angegriffen und zum Teil lebensgefährlich verletzt.
Einige Jahre später habe ich ihn hier in der Forensik kennengelernt und festgestellt, dass die Behandlung gar nicht so schlecht fortgeschritten ist. Es fehlte gar nicht mehr so viel, um diese Erkrankung relativ gut in den Griff zu kriegen.

Bleiben wir einmal bei diesem Patienten.* Sie als forensische Klinik haben das in den Griff bekommen?

Ja. Diese Straftat hat er ja vor dem Hintergrund von Symptomen seiner schizophrenen Erkrankung begangen, die er aber als solche nicht erkennen konnte. Er hat das für die Realität gehalten und sich dann gegen halluzinierte Verfolger zur Wehr gesetzt.
Und plötzlich gelang es mit ihm zu erarbeiten, dass das, was er erlebt, ein Ausdruck einer Erkrankung ist und ihm auch zu vermitteln, was man dagegen tun kann.

*Fall 2 finden Sie am Ende des Gesprächs in der Infobox

Was kann man dagegen tun?

Er hat sich entschieden, sehr hochwirksame Medikamente einzunehmen, die aber Nebenwirkungen haben. Damit gelingt es, dass er praktisch nichts mehr mit der Krankheit zu tun hat. Ab und zu hört er noch ein bisschen was, aber er weiß, dass es Krankheit ist und nicht Realität.

Sie kannten den Mann aus der Allgemeinpsychiatrie – vor der Tat – und konnten ihm nicht helfen. Man würde meinen, in der Forensik ist es noch schwieriger. Warum sind Sie dorthin gewechselt?

Ich wollte Menschen in Lebenskrisen unterstützen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. In der Allgemeinpsychiatrie habe ich dann festgestellt, dass es bei zu kurzen Behandlungsdauern von Wochen oder Tagen nur begrenzte Möglichkeiten gibt, dieses Ziel zu erreichen. Oft lehnen Patienten dann noch Behandlungen ab, oder haben keinen klaren Kopf, können die Realität nicht richtig beurteilen. Dann kann es nicht selten dazu kommen, dass Patienten drehtürartig immer wieder in Behandlung kommen.

In der Forensik habe ich schnell festgestellt, dass man genau bei dieser Patientengruppe ganz andere Behandlungsergebnisse erreicht.

Mehr erreicht als bei "normal" psychisch Kranken?

Jein. Deutlich mehr erreicht – aber nicht als bei "normal psychisch Kranken", sondern als bei "normal kurzen Behandlungsdauern". Hier habe ich viele Patienten getroffen, bei denen wir nie ein Bein auf den Boden gekriegt haben, weil die immer schnell weg waren, Drogen genommen oder Medikamente abgesetzt haben – und schnell wieder in der Krise waren.

Aber im forensischen Setting, wo klar ist, das braucht eine andere Form von Kooperation, um wieder Lockerungen zu bekommen, gelingt viel mehr. Dadurch, dass man viel mehr Zeit hat, eine Beziehung aufzubauen, zeigen die Patienten auch mehr von sich.

Kommen wir vor diesem Hintergrund zurück zu Ihrem Patienten.
Wie geht es mit ihm weiter?

Da sind wir auf einem sehr guten Weg. Wir sind jetzt soweit, dass er auf den ersten Arbeitsmarkt kann.

Heißt das, er wird entlassen?

Entlassung ist ein relatives Konstrukt. Es gibt da mehrere Phasen: Zunächst sind die Patienten hier nur drinnen. Dann kann es bei gutem Verlauf Vollzugslockerungen geben, stufenweise. Zuerst ist man auf dem Klinikgelände in Begleitung von Mitarbeitern unterwegs. Wenn das klappt versucht man das außerhalb des Klinikgeländes. Dann macht man das in Gruppen, später vielleicht alleine raus auf das Klinikgelände. Und man beobachtet, wie belastbar der Patient ist. Bei Missbrauch werden diese Lockerungsstufen schnell wieder zurückgenommen.

Was heißt Missbrauch?

Drogenkonsum oder ein Verhalten, was dem Delikt ähnelt. Und wir achten darauf, wie gesund der Patient im Moment ist. Wenn das in den Stufen gut klappt, stellt sich die Frage, ob er in eine forensische Wohngruppe ziehen kann. Falls ja, wird er immer noch hier betreut. Klappt das gut, kann ein Richter entscheiden, dass eine sogenannte Führungsaufsicht eintritt – die dauert etwas zehn Jahre. Verschlechtert sich der Zustand in dieser Phase, kommt der Patient schnell wieder zurück. Das ist eine sehr vorsichtige Form der Entlassung. In der Forensik dauert es lange, bis man die Patienten los wird.

Sie wirken, als seien Sie froh über die lange Behandlungszeit?

Ja, natürlich. So können wir auch für die Gesellschaft sicherstellen, dass dieser Mensch weiter in gesundem Zustand bleibt und nicht mehr gefährlich ist. Und er wiederum hat das größtmögliche Maß an Freiheit.

Im allgemeinpsychiatrischen Bereich hatte ich den Patienten drei oder vier Wochen. Da hat er die Verfolgung für real gehalten.

Weshalb wurde er damals aus der Allgemeinpsychiatrie entlassen – und bekam er keine Medikamente?

Die Medikamente brauchen lange, bis sie wirken. Bei ihm wirkte in der Forensik auch erst die vierte Kombination.

In der Allgemeinpsychiatrie ist er nach ein paar Wochen zwar noch schwer krank, aber er ist in dem Moment keine akute Gefahr, sodass er anderen was tut. Dann möchte er gehen und er hat er die Freiheit dazu. Der Richter kann ihn nur gegen seinen Willen unterbringen lassen, wenn eine akute Gefahr besteht. Und in dieser Phase von "weiter krank", aber "nicht mehr akut gefährlich", brechen Menschen die Behandlung nicht selten ab und nehmen später keine Medikamente mehr, weil sie ja in ihrer Wahrnehmung keine Krankheit haben – und die wird dann wieder schlechter.

Wäre jemand bei dem Messerangriff gestorben, wäre es für Ihren Patienten dann anders gelaufen?

Man muss zwei Ebenen unterscheiden. Das eine ist das Formale: Wenn jemand aufgrund seiner psychischen Krankheit eine Straftat begeht, aber nicht schuldfähig ist, weil er wegen der Krankheit das Unrecht nicht erkennen konnte, dann wird er vom Gericht freigesprochen und es wird die Unterbringung in die Forensik angeordnet. Und dann zählt am Ende die Frage: Gibt es eine positive Prognose?
Dabei ist formal gar nicht so wichtig, ob das ein versuchter Totschlag oder Totschlag war. Wir haben Patienten, die zehn Jahre und länger hier sind wegen einer einfachen Körperverletzung. Die Tat würde das nicht hergeben, aber die Entlassung erfolgt eben auch vor dem Hintergrund der Prognose.

Das Delikt spielt also keine Rolle?

Doch, das Delikt spielt eine Rolle. Insbesondere wegen der Erkrankung und der daraus folgende Gefährdung. Und wie man dafür sorgen kann, dass keine Gefahr mehr besteht – oder nur noch eine sehr geringe vertretbare Gefahr.

Und doch werden sich wohl viele Menschen auch bei Ihrem Patienten fragen, wer garantiert, dass er nie wieder jemanden angreift?

Solange ein Patient in Führungsaufsicht ist, wird die forensische Nachsorge erkennen, wenn er die Medikamente absetzt und frühzeitig intervenieren. Das ist ein guter Schutz, ganz sicher ist man aber nie.

Ein wichtiger Teil unserer Behandlung ist es außerdem, mit dem Patienten die Wahrnehmung der Symptome zu verändern: Es ist Krankheit, nicht Wirklichkeit. Und das erleben sie in der Regel als Entlastung. Deshalb bin ich gar nicht davon überzeugt, dass die Patienten generell die Medikamente absetzen, sobald sie entlassen sind, wie das im allgemeinpsychiatrischen Setting manchmal der Fall ist.

Porträt von Anthony Hopkins
Sir Anthony Hopkins spielte in den 90er Jahren den Serienmörder Hannibal Lecter. Bild: dpa | zz/RE/Westcom/STAR MAX/IPx

Wie erleben Sie, wie Laien Ihre Arbeit wahrnehmen?

Es gibt ein Problem, was die Forensik in der Außendarstellung hat. Und das ist Hannibal Lecter*. Es gibt hier richtig schwierige Menschen, von denen ich nicht möchte, dass sie im aktuellen Zustand entlassen werden. Aber die Idee, dass hier nur Hannibal Lecters sind, ist eher Ausdruck von Hollywood als von Realität. Wenn man hierhin kommt, stellt man fest: Das sind auch nur Menschen. Die haben etwas Schlimmes getan, aber das ist in der Regel nicht Boshaftigkeit.

*Die Rolle eines Serienmörders, gespielt von Sir Anthony Hopkins in den 90er-Jahren.

Sie haben keine Serienmörder oder Hannibal Lecters bei Ihnen?

Hannibal Lecter habe ich nicht gefunden, aber wir haben Menschen, die das Leben mehrerer anderer Menschen beendet haben.

Aber je schwerer die Straftat, desto genauer gucken wir hin und wollen mehr Sicherheit haben. Und es gibt auch eine Selektion. Wenn jemand mehrere Menschen umbringt – und mit einer Latenz von mehreren Jahren dazwischen – dann hat das was mit seiner Persönlichkeit zu tun. Dann sinkt die Wahrscheinlichkeit der Entlassung deutlich.

Befürchten Sie selbst, Sie könnten sich einmal irren?

Statistisch ist es so, dass auch jemand, bei dem ich vorher nach Abwägung aller Prognose-Faktoren nur ein geringes oder vertretbares Risiko sehe, wieder straffällig wird. Das hat zwei Ebenen:

  • Man hat möglicherweise etwas falsch eingeschätzt, wobei es vorher gar keine Hinweise darauf gab. Das ist das Restrisiko - bei allen Entscheidungen. Das beschäftigt einen natürlich sehr.
  • Und das Worst-Case-Szenario: Man hat eine falsche Entscheidung getroffen aufgrund einer Datenlage, bei der vorher schon klar war, dass es schiefgeht: So etwas muss man natürlich vermeiden.

Wie zufrieden sind selbst Sie selbst mit dem, was Sie erreichen?

Ich habe das Gefühl, dass ich eine sinnvolle Arbeit mache. Wir behandeln Menschen und schützen die Gesellschaft vor Schaden. Wir haben außerdem Ressourcen, um die Arbeit so gut wie möglich zu machen. Da ist Bremen gut, wir können uns dem Patienten widmen und ihnen gerecht werden. Und wir können psychisch kranken Straftätern ein lebenswertes Leben geben, ganz eindeutig. Studien zeigen, wie der Zustand der Menschen nach einem Gefängnisaufenthalt oder nach einem Aufenthalt in der forensischen Psychiatrie ist - auch, das Risiko wieder Straftaten zu begehen. Und die Daten sind für die Forensik deutlich besser als bei denen, die nur in der JVA oder nur in Therapie waren.

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Bild: Radio Bremen

Autorin

  • Autorin
    Birgit Reichardt Redakteurin und Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 18. Juli 2023 19:30 Uhr