Interview

Bremer Arbeitnehmerkammer zur Rente: "Viele halten bis 70 nicht durch"

Schon jetzt halten laut Rentenexperte Brosig diejeningen nicht bis zur Rente durch, die körperlich hart arbeiten. Die Arbeitnehmerkammer fordert deshalb eine andere Debatte.

Die Debatte um das Rentenalter ist neu entflammt. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Stefan Wolf, hat sich für eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre ausgesprochen. Die Parteien der Koalition im Bund erteilten diesem Vorstoß bereits eine Absage.

In Deutschland soll das Alter für den Beginn der Rente schrittweise von 65 auf 67 Jahre steigen. Für jene, die 1964 aufwärts geboren wurden, gilt künftig definitiv eine Regelaltersgrenze von 67 Jahren. Eine weitere Anhebung ist bislang aber nicht vorgesehen. Diese Haltung hat auch die Arbeitnehmerkammer Bremen. Laut Rentenexperte Magnus Brosig halten schon jetzt viele nicht bis zur Rente durch. Er hat deshalb andere Forderungen.

Herr Brosig, Rente mit 70 ist ein Diskurs, der immer wieder neu aufgelegt wird. Ist das ein Zeichen dafür, dass dies ein ernst zu nehmender Vorschlag ist?

Die Forderung, das Rentenalter anzuheben, kommt regelmäßig von der Arbeitgeberseite. Sicherlich ist diese Forderung auch ernst gemeint – wir halten sie aber weder für umsetzbar noch für nötig. Denn es gibt auch mit Blick auf die Demografie keine Notwendigkeit, eine Rente mit 70 einzuführen. Der Alterung der Bevölkerung kann und sollte in der Rentenversicherung mit einer Reihe anderer Maßnahmen begegnet werden, die im Übrigen auch die Ansprüche der einzelnen Versicherten verbessern würden: Wir brauchen zum Beispiel eine Qualifizierungsoffensive gerade auch für Jüngere ohne Berufsausbildung, bessere Erwerbschancen für Frauen sowie fairere Lohnstrukturen und mehr Tarifbindung. Nicht zuletzt würde auch eine Erwerbstätigenversicherung eindeutig weiterhelfen: Selbstständige und Beamte sollten endlich auch in die gesetzliche Versicherung einzahlen, wie es in anderen vergleichbaren Ländern seit langem üblich ist.
Für eine erneute Anhebung des Rentenalters gibt es außerdem in der Bundesregierung derzeit keine politische Mehrheit – wir denken deshalb, dass es über eine Sommerloch-Debatte nicht hinausgeht.

Als Arbeitnehmerkammer klingt erst mal selbstverständlich, dass Sie gegen eine Rente erst mit 70 sind. Können Sie das erläutern?

Wir halten nichts von der Rente mit 70, weil es faktisch eine Rentenkürzung für alle bedeutet. Denn das hieße ja, dass alle länger arbeiten müssen, mehr Beiträge einzahlen in die Rentenversicherung, aber am Ende weniger Jahre Rente beziehen, also vergleichsweise weniger rausbekommen. Man muss sich immer klar machen: Mit höheren Altersgrenzen soll das Rentensystem gerade für die Arbeitgeber weniger kosten und mehr Fachkräfte länger zur Verfügung stehen.

Worauf fußt Ihre Haltung?

Die Rente ist kein Almosen, sondern ein versicherungsrechtlicher Anspruch. Seit Jahren wird an dem Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung herumgedoktort. Das Ergebnis ist für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leider, dass es immer weniger Leistungen gibt. Schon jetzt liegt das Rentenniveau deutlicher niedriger als noch vor 20 Jahren. Ziel der gesetzlichen Rentenversicherung war es einmal, den Lebensstandard im Alter zu sichern. Die Menschen zahlen jahrelang Beiträge, damit sie sich auch im Rentenbezug die Wohnung oder das Häuschen noch leisten können. Aus unserer Beschäftigtenbefragung wissen wir außerdem, dass fast ein Viertel der Bremer Beschäftigten nicht davon ausgeht, dass sie es überhaupt bis zum regulären Rentenalter schaffen.

Ein großer Teil der Beschäftigten wird einfach nicht bis zur Rente mit 70 Jahren durchhalten und ein nicht kleiner Anteil sogar vorher versterben.

Magnus Brosig, Rentenexperte Arbeitnehmerkammer Bremen

Wen würde eine "Rente mit 70" besonders treffen?

Die Regelaltersgrenze weiter zu erhöhen hat die fatale Folge, dass insbesondere Menschen betroffen sind, die hart arbeiten und stark belastet sind. Ein großer Teil der Beschäftigten wird einfach nicht bis zur Rente mit 70 Jahren durchhalten und ein nicht kleiner Anteil sogar vorher versterben. Vor allem Menschen, die im Schichtdienst arbeiten, nachts arbeiten oder an Sonn- und Feiertagen, sagen, dass sie es nicht bis zur regulären Rente schaffen. Betroffen sind vor allem Beschäftigte der Baubranche, dem Gastgewerbe und aus dem Gesundheitswesen, hier vor allem in Krankenhäusern. Wer aber früher gehen will oder aus gesundheitlichen Gründen muss, würde noch höhere Abschläge auf die Rente verkraften müssen. Schon heute reicht bei vielen die Rente nicht zum Leben, diese Entwicklung würde damit nur noch beschleunigt.

Welchen Schluss ziehen Sie, beziehungsweise welchen Vorschlag machen Sie als Arbeitnehmerkammer?

Statt immer wieder über eine "Rente mit 70" zu sinnieren, sollten Politik und Arbeitgeber endlich sicherstellen, dass überhaupt die aktuelle Altersgrenze erreicht werden kann. Die Unternehmen müssen in diesem Sinne Arbeitsbedingungen gewährleisten, und der Gesetzgeber sollte zielgenaue Instrumente einführen, die tatsächlich Brücken in abschlagsfreie Renten bauen. Wir schlagen dazu beispielsweise ein "Berufsminderungsgeld" vor, das die Qualifikation der Beschäftigten anerkennt: Wer in den Jahren vor der Altersgrenze nur noch eingeschränkt im angestammten Beruf arbeiten kann, soll bereits eine Teilrente ohne Abschläge erhalten können, die den entstehenden Lohnausfall zu einem guten Teil ersetzt.

Autorin

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    Birgit Reichardt Redakteurin und Autorin

Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Nachrichten, 2. August 2022, 10 Uhr