Interview

Bremerin mit Lipödem: "Ich sah aus, als hätte mich jemand verprügelt"

Bild: Radio Bremen

Laut Studien könnte sogar jede zehnte Frau von der Fettverteilungsstörung betroffen sein. Eine junge Bremerin mit Lipödem schildert, was die Krankheit für ihren Alltag bedeutet.

Sarah Müller, die eigentlich anders heißt, hat seit der Pubertät eine ungleiche Fettverteilung am Körper. Anders ausgedrückt: Ihre Beine und Arme sind deutlich kräftiger als der Rest ihres Körpers, auch Diäten und Bewegung verbessern die Lage kaum. Sie leidet unter Lipödem, einer Störung der Fettverteilung. Im Interview mit buten un binnen schildert sie ihre Erfahrung und den langen Weg zur Diagnose.

Frau Müller*, Sie sind jetzt 28 Jahre alt. Wann und wie ist die Krankheit bei Ihnen aufgetreten?

Insbesondere nach der ersten Periode und dem Einnehmen der Pille ist es auffällig gewesen, dass ich sehr, sehr kräftige Oberarme und Oberschenkel hatte, aber eine vergleichsweise schmale Taille und einen flachen Bauch. Mit 16, 17 Jahren habe ich mir schon Gedanken darüber gemacht. Und je älter ich wurde, desto auffälliger wurde es. Ich war dann bei vielen verschiedenen Ärzten, doch viele haben mir gesagt, ich müsste einfach abnehmen und mehr Sport machen. Ich sollte eine Ernährungsberatung in Anspruch nehmen, meine Ernährung umstellen. Aber man hat nicht mal ansatzweise darüber nachgedacht, dass es Lipödem sein konnte.

Was haben Sie dann getan?

Ich habe viele verschiedene Sachen ausprobiert, aber leider hat nichts angeschlagen. Ich habe einmal fast 15 Kilo abgenommen und an Oberarmen und -schenkeln keinen einzigen Millimeter Umfang verloren. Dafür aber eine immer schlankere Taille und Bauch bekommen. Mich haben dann endlich andere Frauen auf Lipödem aufmerksam gemacht. Ich wurde im Fitnessstudio tatsächlich von einer Frau darauf angesprochen, ob ich nicht mal daran gedacht hätte. Im Sommer 2020 wurde es mir dann von einer Fachärztin diagnostiziert.

Haben Sie damals gewusst, was ein Lipödem überhaupt ist?

Am Anfang wusste ich es tatsächlich nicht und habe viel gegoogelt. Als ich dann erfahren habe, dass ich es habe, war es für mich zunächst ein Schock. Ich habe nur gedacht, "Oh Sch**e. Ich habe das wirklich". Ich wollte es nicht ganz wahrhaben. Diese Hilflosigkeit war da: das Gefühl, gar nichts selber dagegen machen zu können. Gleichzeitig war das aber auch eine Erleichterung. Endlich zu wissen, dass ich für dieses Aussehen eigentlich gar nichts kann.

Mal vom Körperbau abgesehen, hatten Sie auch andere Symptome?

Ich hatte diese blauen Flecken an Armen und Beinen, selbst bei kleinsten Berührungen mit Gegenständen oder anderen Personen. Das sah manchmal so aus, als hätte mich jemand verprügelt. Das war mir auch ein bisschen unangenehm. Deswegen war ein kurzer Rock oder eine kurze Hose im Sommer zu tragen lange Zeit für mich ein Tabu-Thema. Und dann hatte ich immer geschwollene Beine. Nach einem längeren Flug oder langem Sitzen konnte ich kaum laufen. Es fiel mir schwer, einige Etagen Treppen hochzugehen. An viele Sportarten war gar nicht zu denken, weil ich dabei immer Schmerzen hatte.

Wie hat die Krankheit Sie beeinflusst?

Durch die Schmerzen natürlich, aber auch auf psychischer Ebene: Es geht sehr auf das Selbstbewusstsein. Ich habe mich irgendwie versteckt, wollte immer in die hinterste Reihe auf Gruppenfotos, habe sehr lange Klamotten getragen und mich unwohl in meiner Haut gefühlt. Mich irgendwie für mich selbst geschämt.

In welchem Stadium sind Sie und wie wird ihr Lipödem behandelt?

Mein Lipödem war vor der Operation im Stadium II. Ich habe es zeitnah nach der Diagnose operativ behandeln lassen. Ich hatte im Juli, August und September jeweils eine Operation. Bei der ersten wurden die Außenseiten der Beine komplett operiert. Einen Monat später habe ich die zweite an den Armen gemacht. Und dann die Innenseite der Beine. Das war mit Abstand die schmerzhafteste OP. Dann wurde 2021 nachträglich eine Korrektur vorgenommen. Nach der Operation hatte ich auch Behandlungen beim Therapeuten, der die Beine massiert hat.

Wie geht es Ihnen nach den Operationen?

Die Operationen haben auf jeden Fall sehr viel gebracht. Jetzt merke ich zum Beispiel, dass der Sport mir viel, viel leichter fällt. Ich kann wieder Treppen steigen, schwere Dinge hochheben und generell einfach lange laufen. Ich bekomme nicht mehr so schlimme blaue Flecken. Eigentlich bin ich sehr froh, dass ich es gemacht habe.

Jedoch selbst heute, nach der Operation, habe ich immer wieder psychische Beschwerden. Ich stecke immer noch in diesem Denkmuster, mich verstecken zu müssen. Oder Sachen kaschieren zu müssen. Ich fühle mich also noch nicht 100-prozentig wohl in meinem Körper. Aber ich befinde mich auf dem Weg der Besserung und versuche, Tag für Tag mich selbst wieder mehr zu mögen.

Zwei stark geschwollene Beine mit blauen Flecken.
So sahen die Beine der Betroffenen nach der Operation aus. Bild: privat

Was sagen die Menschen in Ihrem Umfeld, wenn sie von der Krankheit erfahren?

Ich erzähle es tatsächlich nicht so vielen Menschen. Aus Scham, weil ich Angst habe, dass sie denken: "Sie ist ja dick und will sich nur dahinter verbergen und redet sich das selbst ein". Solche Reaktionen kamen nicht, aber ich erzähle das meistens nur sehr engen Freunden, denen ich wirklich vertraue. Sie haben versucht, mich aufzubauen und gesagt, ich solle stark bleiben und mich da durchbeißen. Viele kennen jedoch die Krankheit nicht. Diese Unwissenheit hat mich manchmal überrascht, vor allem bei Frauen. Die meisten reagieren dann schockiert und mitleidend.

Wie beurteilen Sie die Versorgung Lipödem-Betroffener?

Die Krankenkasse bezahlt den Eingriff erst ab Stadium III. Stadium III ist aber wirklich absolut lebensunwürdig. Das würde ich niemandem wünschen. Meine Behandlungen wurden nicht übernommen, da ich unter Stadium II gelitten habe. Mich kosteten die Operationen damals 5.600 Euro pro OP und 800 Euro Narkose, also habe ich knapp 26.000 Euro dafür bezahlt. Ich konnte es mir nur leisten, weil meine Familie und meine Großeltern mich finanziell unterstützt haben.

Vier Operationen in zwei Jahren waren aber auch für meinen Körper eine echte Herausforderung. Ich wünsche mir, es gebe auch eine andere Möglichkeit, es loszuwerden; dass mehr in die Forschung investiert wird. Und auch viel mehr darüber aufgeklärt wird. Dass niemand mehr als 17-, 18-jähriges Mädchen vom Arzt gesagt bekommt: "Du bist einfach zu dick, geh Sport machen und iss besser". Sondern, dass man der Sache auf den Grund geht, wenn die Person Hämatome und ernsthafte Beschwerden hat. Das würde ich mir wünschen.

* Name von der Redaktion geändert.

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Autorin

  • Serena Bilanceri
    Serena Bilanceri Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 1. Dezember 2022, 19:30 Uhr