Kann-Kinder: Bremer Experten warnen vor zu frühem Schulstart

Kann-Kinder in Bremen: Ist mein Kind bereit für die Einschulung?

Bild: dpa | Frank Hammerschmidt

Soll das Kind ab kommendem Jahr zur Schule oder erst später? Vor dieser Frage stehen im Land Bremen rund 2.000 Eltern. Eine Psychologin, ein Arzt und ein Pädagoge geben Tipps.

Klettern kann er. Auch das Schaukeln bereitet Fridtjof keine Probleme. Aber ist er auch schon bereit für Mathe und Deutsch? Der Fünfjährige kommt nächsten Sommer in die Schule. Dabei könnte Fridtjof auch noch ein Jahr im Kindergarten bleiben. Denn er hat Mitte August Geburtstag, ist somit ein Kann-Kind oder auch ein "Karenzzeitkind", wie es in der Sprache der Schulbehörde heißt. Karenzzeitkinder sind alle, die im kommenden Juli, August oder im September sechs Jahre alt werden. Für diese Jungen und Mädchen müssen die Eltern entscheiden, ob sie noch ein Jahr in der Kita bleiben oder eingeschult werden sollen.

Und das ist nicht immer leicht. Das Kind könnte über- oder unterfordert sein. Fridtjofs Eltern, Malte Johannsen und Beke Barlage, haben dennoch nicht lange überlegt. "Weil es bei uns relativ klar war, dass er auch im Kindergarten schon mit den älteren Kindern relativ viel gespielt hat", wie Johannsen sagt. Auch habe Fridtjof bereits angefangen zu rechnen und zu schreiben. In der Kita würde er sich unterfordert fühlten, müsste er dort noch ein Jahr länger bleiben, ergänzt Barlage.

Soziales Verhalten zeigt Reife der Kinder an

Blonder, fünfjähriger Junge im Profil
Freut sich auf die Schule: Kann-Kind Fridtjof. Bild: Radio Bremen

Nicht alle Eltern ihn ihrem Umfeld hätten sich so entschieden wie sie, sagen Barlage und Johannsen. Andere ließen ihr Kind noch ein Jahr länger im Kindergarten. Um die richtige Entscheidung für oder gegen die frühe Einschulung zu treffen, rät die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Nicole Pätzel Eltern, auf das Sozialverhalten des Kindes zu achten. Es sollte vor der Einschulung schon gelernt haben, von den Eltern getrennt und in Gruppen zu sein, sagt sie: "Wenn vorher so gar nichts sozial in Gruppen stattgefunden hat, ist es schwierig, direkt in die Schule zu kommen. Das ist dann ein Riesenschritt."

Psychologin warnt vor Überforderung

Frau spricht vor Hintergrund einer Praxis für Kinder mit viel Spielzeug in die Kamera
Sieht im sozialen Verhalten von Kann-Kindern entscheidende Indikatoren für die Schulfähigkeit: Psychologin Nicole Pätzel. Bild: Radio Bremen

Zwar kann sich in der Entwicklung eines Kindes innerhalb eines knappen Jahres bis zur Einschulung eine Menge tun. Doch wenn ein Kind in Bremen einmal für die Schule angemeldet ist, kann diese Entscheidung nur durch ein ärztliches Gutachten rückgängig gemacht werden.

Nicole Pätzel sagt, dass es auch negative Konsequenzen haben könne, wenn Kinder zu früh eingeschult werden: "Wenn Kinder überfordert sind, dann entstehen bestimmte Störungsbilder." So litten viele Kinder in der Grundschule unter Übelkeit, würden von großen Ängsten geplagt, könnten nicht zur Schule gehen und zögen sich zurück.

Kinderarzt und Pädagoge raten zu späterem Schulstart

Der Kinder-und Jugendarzt Marco Heuerding im Studio von buten un binnen.
Der Kinderarzt Marco Heuerding ist kein Freund davon, Kinder ohne zwingenden Grund früh einzuschulen. Bild: Radio Bremen

Noch deutlicher wird der Bremer Kinderarzt Marco Heuerding: "Vorgezogenen Einschulungen bedeuten für die Kinder meistens nur Nachteile", sagt er. Viele Kann-Kinder könnten am Ende der Grundschule vergleichsweise schlecht lesen und hätten auch im weiteren Verlauf ihrer Schulzeit Probleme. "Manchmal werden sie von den älteren Mitschülern auch noch gemobbt", fügt Heuerding hinzu. Zwar gäbe es Ausnahmen, erklärt der Kinderarzt, kommt aber zu dem Ergebnis: "Die meisten Kinder profitieren von einem späteren Schulstart."

Eltern sollten mit Erziehern sprechen

Um sich ein realistisches Bild davon zu machen, ob das eigene Kind tatsächlich bereits schulfähig ist, sollten sich Eltern nicht nur auf ihr eigenes Urteil verlassen.

Wir projizieren viel in das eigene Kind.

Ein Porträt von Professor Dr. Robert Baar.
Robert Baar, Professor für Grundschulpädadgogik

Die Erzieherinnen und Erzieher der Kitas dagegen hätten gute Vergleichsmöglichkeiten, um Kinder einzuschätzen und seien zudem weitgehend unbefangen. "Mütter und Väter sollten auf die fachliche Kompetenz der Erzieherinnen vertrauen", rät Baar daher.

Grundsätzlich sollte ein Kind, das eingeschult wird, eigenes Interesse daran zeigen, das Lesen und Schreiben zu lernen und auch Lust dazu haben, sich mit anderen Kindern auseinanderzusetzen. "Die Altersgrenze von sechs Jahren ist willkürlich gesetzt", stellt Baar zudem fest. Das Alter und der Entwicklungsstand eines Kindes seien nicht identisch.

Von derartigen Bedenken unberührt, ist sich Fridtjof sicher, dass er bereit ist für die Schule. Er freut sich schon jetzt darauf, dort seine Freunde wieder zu treffen, ältere Kinder, die bereits eingeschult worden sind.

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Bild: Radio Bremen
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Autorinnen und Autoren

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 3. November 2023, 19:30 Uhr