Häusliche Gewalt: Warum diese Bremerin erst nach 17 Jahren ging

Erika Pohlner
Erika Pohlner

Nach Gewalt in erster Ehe: "Mir steht nur noch Gutes zu"

Bild: Radio Bremen | Mario Neumann

Triggerwarnung: In diesem Artikel und im dazugehörigen Podcast werden häusliche Gewalt und Alkoholismus thematisiert.

Erika Pohlner ist mit 19 schwanger, ihr Vater zwingt sie zur Ehe mit dem gewalttätigen Mann. Ihr Leben ist geprägt von Angst – bis sie ihre große Liebe findet.

Erika Pohlner hat zwei Hälften – die eine ist schnell empört, es ist die "Das geht gar nicht"-Pohlner, die dir eine reinhauen könnte, zumindest verbal, die mutig kämpfen kann. "Das hab‘ ich eigentlich auch im Leben immer so geschafft", sagt sie stolz und erinnert sich an Zeiten, in denen sie drei Jobs gleichzeitig gemacht hat. Doch die andere Hälfte hat Angst. Angst vor dem, "was draußen abgeht. Jeder hat heute ein Messer in der Tasche, jeder hat 'ne Knarre. Jeden Tag liest man das und dann denkt man, jetzt bist du selber dran". So empfindet es die 72-Jährige.

Geschichte der Angst

Angst lernt Pohlner als Kind, Angst vor ihrem Vater. Er war kein guter Vater, hat sie geschlagen. "Ich war mit 13 noch Bettnässer, sag' ich genauso, wie es war, es war furchtbar." Ihr Vater sagte zu ihr und ihren vier Schwestern: "Kommt ihr mit 'nem Kind nach Hause, ich schlag' euch tot" – so erinnert sich Pohlner. "Haltet durch. Wenn ihr nach Hause kommt und rumquakt, das geht gar nicht", war seine Botschaft.

Ein Mann, der ein Bein im Russlandkrieg verloren hatte, erzählt Pohlner. Dementsprechend fügt sie sich auch dem Willen der Eltern und heiratet den Vater des Kindes, als sie mit 19 schwanger wird. Schnell zu Hause raus. Die Eltern müssen unterschreiben, volljährig ist man damals erst mit 21. Noch vor der Hochzeit ist ihr Mann gewalttätig, beim Standesamt wäre sie am liebsten weggelaufen.

Gewalt gehört zum Alltag

Doch sie bleibt, ist die Gewalt gewöhnt. "Da ging die Liebe tot", sagt Pohlner. Die Liebe wurde im wahrsten Sinne des Wortes erschlagen, von einem Quartalstrinker, der auch mal drei Tage lang nicht nach Hause kam. Mal ein blaues Auge, mal ein paar Tritte, so schildert es Pohlner heute. Nach dem Tritt in den Babybauch hat sie geschrien.

Pohlner geht, was die Misshandlungen während 17 Jahren Ehe angeht, nicht weiter ins Detail. Sie hat mit dem Thema abgeschlossen. Allerdings sagt sie auch aufgebracht: "Also heute würde ich, heute, also irgendwann wird man ja auch älter, da ist man anders drauf." Mindestens zehn Jahre früher, mit Mitte 20, als der gemeinsame Sohn aus dem Gröbsten raus war und in die Schule kam, hätte sie aus der Ehe aussteigen sollen, sagt sie heute.

Ich hab so viel Schlimmes erlebt, mir steht eigentlich nur noch Gutes zu.

Erika Pohlner

Ihr Hausarzt sagt damals: entweder gehen oder ertragen. "Ich wollte meinen Sohn gesund groß kriegen, weil mein Mann ja auch der Vater meines Sohnes war", denkt Pohlner. Und bleibt. Sie ist eine gute Ehefrau, bringt Frühstück ans Bett, organisiert alles, den Haushalt, arbeitet nebenbei, wenn das Kind im Kindergarten ist, geht kellnern, steht an der Drehbank, wo sie eben gebraucht wird. Gelernt hatte sie Einzelhandelskauffrau im Bekleidungsgeschäft, hätte aber lieber Innenarchitektur gemacht.

Ihr Mann war fleißig, hat auch was im Kopf gehabt, sagt sie, hat nicht jeden Tag getrunken. Nach außen steht die Kulisse einer heilen Familie, so dass heute noch manche sagen: "Was hast du denn? Dein Mann war doch ok." Lange war sie unsicher, ob sie das Leben alleine bewältigen könnte, hält es bei ihrem Mann aus, bis der Sohn mit der Ausbildung anfängt. Dann erst nimmt sie sich eine Anwältin und zieht die Scheidung durch.

Wer ist ihr echter Vater?

Heute weiß Pohlner: Der Ursprung ihrer Angst, der Vater, war wahrscheinlich gar nicht ihr leiblicher Vater – ihre Mutter wollte noch einen Zettel hinterlassen, aber die Schwester, bei der die Mutter zuletzt gewohnt hat, sagt, es gibt keinen Zettel. Für Pohlner ist aber klar: Sie ist anders als alle anderen in ihrer Familie. Sie schreibt bis heute Geschichten, für ihre Enkel, das hat sonst keiner in ihrer Herkunftsfamilie gemacht.

"Ich kann da auch einiges zusammenzählen und ahne zu 99 Prozent, wer mein Vater ist, aber der ist schon ganz früh an Magenkrebs gestorben, da war ich gerade mal zehn Jahre alt. Dieser Mann war auch mein Patenonkel, der war so lieb und so herzensgut zu mir. Der kam immer nur, wenn mein Vater nicht da war." Nett war ihr "offizieller" Vater nur, wenn sie im Garten geholfen hat, schenkt ihr sogar einmal ein kleines gelbes Küken. Das habe sie abgöttisch geliebt, bis es ihr später weggenommen wurde.

Mit 48 die große Liebe getroffen

Nach all dem Schlimmen, das sie erlebt hat, lernt sie mit 48 die Liebe ihres Lebens kennen. Es folgen wunderbare Jahre mit vielen Reisen, mit wilden Tänzen morgens in der Küche, mit Streicheleinheiten und fast einer Hochzeit in England oder Las Vegas, erzählt Pohlner. Doch leider verstirbt ihr Lebenspartner vorher, nach 13 gemeinsamen Jahren. Sie braucht zwei Jahre, um die Trauer zu bewältigen. Inzwischen ist sie sich sicher: "Ich hab so viel Schlimmes erlebt, mir steht eigentlich nur noch Gutes zu."   

Wenn die Angst wieder hochkommt

Doch es gibt für sie immer wieder Schreckensmomente, beispielsweise als sie kürzlich von drei Männern nachts im Bremer Hauptbahnhof angesprochen wird. "Dummschnacker" nennt sie sie, die sie nach Hause bringen wollen, mit ziemlich eindeutigen Absichten, sagt Pohlner. "Ich hab jetzt überhaupt keinen Bock auf euch", habe sie entgegnet, "ich habe gerade meinen Lebenspartner verloren, der ist gestorben." Da seien die drei wie ausgewechselt gewesen, hätten ihr Bedauern ausgedrückt und sie in Ruhe gelassen. Doch die Angst bleibt, vor Gewalt durch Männer, die sie so häufig erleben musste.

Wenn Pohlners Enkelsohn heute vor dem Foto seines Opas ein Geburtstagslied singt, ist das für sie völlig ok, trotz der schmerzhaften Vergangenheit. Pohlner ist trotz allem ein fröhlicher, positiver Mensch, der sich nicht kleinkriegen lässt. Die 72-Jährige ist viel mit dem Fahrrad unterwegs, beschreibt sich als Gefühlsmensch und macht, was sie macht, mit dem Herzen. Auch wenn es nur das Tragen der Einkaufstasche für jemand anderen ist.

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Autor

  • Zu sehen ist ein Porträtfoto von Mario Neumann. Blaue Augen, relativ kurze, dunkelblonde Haare. Er hat die Arme verschränkt und lächelt.
    Mario Neumann Autor

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Podcast "Eine Stunde reden", 15. Dezember 2022, 21:05 Uhr