Interview
Bremer Ärztin: Wie Gender-Medizin Leben retten kann
Mann, Frau, divers: Jeder gehe anders mit Gesundheit um, sagt die Bremer Kardiologin Tina Retzlaff. Auch Symptome variierten bei gleicher Erkrankung zwischen den Geschlechtern.
Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen: Bei diesen Symptomen denken die meisten Bremerinnen wohl eher an ein Magen-Darm-Infekt als an eine lebensbedrohliche Herz-Erkrankung. Gendermedizin rückt diese ungewöhnlichen Symptome in den Fokus und beleuchtet Faktoren, die auf Krankheiten wirken oder sie auslösen, darunter auch das Geschlecht. Wie unterschiedlich Männer und Frauen mit Krankheit umgehen, zeigen auch Datenanalysen verschiedener Krankenkassen. Demnach gehen Frauen deutlich häufiger zum Arzt, Männer nehmen hingegen mehr Medikamente ein. Studien mit Menschen anderer Geschlechtsidentitäten seien dagegen völlig unterrepräsentiert, sagt die Bremer Kardiologin Tina Retzlaff. Am Klinikum Links der Weser gehört Gendermedizin für sie längst zum Alltag.
Frau Retzlaff, wie häufig und in welchen Bereichen begegnet Ihnen das Thema Gendermedizin in Ihrem Berufsalltag?
Zunächst behandeln wir unsere Patienten natürlich alle gleich. Im Rahmen der individualisierten Medizin denken wir aber natürlich an Altersunterschiede, geschlechtsspezifische Unterschiede und welche Nebenerkrankungen auftreten. Gerade bei uns in der Kardiologie in der Notaufnahme ist das mit Blick auf Herzinfarkte ein großes Thema.
Was genau meint Gendermedizin eigentlich und warum ist es wichtig, Frauen und Männer unterschiedlich zu betrachten?
Die Gendermedizin ist eine relativ junge Wissenschaft in der Medizin. Ich habe von 2007 bis 2013 studiert, da war es schon Thema. Ältere Kollegen haben das gar nicht gelehrt bekommen. Man darf Gender dabei aber nicht rein als Geschlecht übersetzen, es müssen zum Beispiel auch soziokulturelle Einflüsse beachtet werden. Auch gesellschaftliche und psychologische Einflüsse sind relevant. Egal, ob Mann oder Frau: Jeder hat einen anderen Background und jeder geht anders mit Beschwerden und Krankheit um. Gendermedizin ist ein Teil der Medizin, der darauf aufmerksam macht, beziehungsweise zu einer individualisierten Therapie beitragen möchte.
Das heißt, das Geschlecht ist zwar ein Faktor in der Gendermedizin, aber längst nicht der einzige?
Genau. Wir übersetzen im Deutschen Gender oft mit Geschlecht. Es ist nur ein Teil der Bezeichnung. Klar, es gibt einen Unterschied zwischen Männern und Frauen aber in der englischen Literatur findet man dann auch "sex and gender differences", wobei viel mehr das soziale Umfeld einbezogen wird. Bin ich berufstätig? Wie ist mein finanzieller Status? Habe ich ein Hilfe- oder Support-System in meinem Familien- oder Bekanntenkreis? Bin ich alleinerziehend? Diese Faktoren, ganz unabhängig vom Geschlecht, können sich auf eine Krankheit auswirken oder dafür sorgen, dass eine Krankheit entsteht.
Viele Therapien oder Krankheitsbilder basierten in der Vergangenheit auf Datengrundlagen männlicher Patienten. Welche Folgen hat das bis heute?
Ich behaupte, das ist auch heute hauptsächlich noch so. Der untersuchte Studienpatient ist männlichen Geschlechts, mittelalt und wahrscheinlich weißer Hautfarbe. Ab den Achtziger und Neunziger Jahren hat man erkannt, dass andere Ethnizitäten und Geschlechter eine Rolle spielen. Der Frauenkörper verändert sich im Leben stark. Er durchgeht hormonell bedingt ganz viele unterschiedliche Phasen, da passiert bei Frauen sehr viel. Zu dieser Zeit erkannte man an, dass Frauen in Studien unterrepräsentiert sind, dass Medikamente vielleicht ganz anders wirken. Ich glaube auch, dass Männer – warum auch immer – eher an Studien teilnehmen.
Warum ist das so?
Vielleicht spielt gerade hier das Soziokulturelle eine Rolle. Wir sehen das auch bei unseren Herzinfarktpatienten. Die Männer gehen nach einem Herzinfarkt häufig in eine Reha, machen alles mit, nehmen die Medikamente ein, die man ihnen verschreibt. Frauen hingegen lesen öfter den Beipackzettel, nehmen vielleicht doch eher homöopathische Medikamente ein und nehmen sich auch aus ihrem Alltag nicht so richtig raus und machen weniger häufig eine Reha. Frauen können sich oft weniger gut aus dem Alltag lösen, auch, weil sie häufig mehr Verantwortung für andere haben.
Mit jeder Studie gibt es neue gendermedizinische Erkenntnisse. Was glauben Sie: Wie viele Informationen liegen bislang noch im Verborgenen?
Da muss man aktuelle Studien aus den Fachkreisen abwarten. Aber wenn wir über Geschlecht reden, gibt es natürlich nicht nur Männlein und Weiblein, sondern auch ganz andere Geschlechtsidentitäten. Non-binäre, transgender oder inter-idente Personen sind in Studien total unterrepräsentiert. Wenn man beispielsweise eine Geschlechtsanpassung hatte und deswegen Hormone eingenommen hat. Ob diese Studien-Lücke jemals aufzuholen ist, weiß ich nicht. Aber diese Menschen brauchen natürlich ebenfalls eine individualisierte Betreuung.
Bei welchen Symptomen oder Beschwerden werden Sie als Kardiologin "hellhörig", wenn ein Mann, beziehungsweise eine Frau sie äußert?
Vorab: Wenn man in der Bevölkerung eine Umfrage starten würde "Wer bekommt ein Herzinfarkt?", dann ist es wahrscheinlich ein Mann, ein Manager, der viel Stress hat, hohen Blutdruck und klassische Beschwerden, wie ein Druckgefühl im Brustkorb und ausstrahlenden Schmerz in den linken Arm. Wenn man uns in der Notaufnahme diese Schlagworte an den Kopf wirft, denken auch wir immer direkt an einen Herzinfarkt. Bei Frauen ist es ein bisschen anders. Bei ihnen ist es vielmehr ein Unwohlsein, Übelkeit, ein Druckgefühl im Oberbauch und sie fühlen sich vielleicht nicht so belastbar. Die Symptome sind relativ unspezifisch und man muss genau hinschauen, um nichts zu übersehen.
Wie wichtig ist es, dass auch Frauen selbst ein Bewusstsein für diese Symptome entwickeln?
Sehr wichtig. Viele sehen nicht das Gefahrenpotenzial, überhaupt ein Herzinfarkt zu erleiden. Frauen machen sich da eher Sorgen um ihren Mann. Ganz häufig hören wir in der Notaufnahme von Männern, ihre Frau habe den Rettungsdienst gerufen. Von einer Frau haben wir das eigentlich noch nie gehört. Frauen sitzen das eher aus, haben vielleicht noch was zu tun. So wird es zu einem versteckten Infarkt, der über mehrere Tage verschleppt wird.
Inwiefern gibt es zwischen den Geschlechtern Unterschiede mit Blick auf die Gefährlichkeit von Herzinfarkten?
Herzinfarkte sind potenziell bei Männern und Frauen lebensgefährlich. Die Datenlage zeigt, dass Frauen schlechtere Überlebenschancen nach solch einem Infarkt haben. Die Zeit verstreicht, der Muskel wird nicht gut durchblutet und dadurch können Herzrhythmusstörungen und andere Komplikationen entstehen. Aber natürlich kann man nicht bei jedem Unwohlsein oder jeder Übelkeit gleich auf ein Herzinfarkt schließen, aber es ist wichtig, zumindest daran zu denken.
Abgesehen von der Kardiologie: In welchen anderen Fachbereichen gibt es mit Blick auf Symptome oder die Therapie klare Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Da fällt mir sofort Brustkrebs ein. In der Gesellschaft würde man diese Erkrankung wahrscheinlich niemals mit Männern assoziieren. Doch gerade bei Männern, die übergewichtiger sind, ist es möglich, dass sie Brustkrebs haben. Der Hausarzt und die Männer sollten deswegen die Brust regelmäßig abtasten. Genauso ist es bei Osteoporose. Das verbindet man eher mit Frauen in der Postmenopause, es spielt aber auch bei betagten Männern eine Rolle. Zudem ist es so, dass Medikamente bei Frauen häufig anders wirken. Sie sind oft kleiner und vielleicht geben wir Frauen zu hohe Dosen, denn Studien laufen häufig mit männlichen Probanden.
Als wie "gewichtig" schätzen Sie den Faktor Geschlecht bei der Erstaufnahme und anschließenden Behandlung und Therapie ein?
Ich würde dem Geschlecht eher eine untergeordnete Rolle zuordnen. Für mich sind eher Risikofaktoren, das Alter oder das Gewicht entscheidend, um die richtige Medikamentendosierung zu finden. Der Faktor Geschlecht ist aber in der Diagnostik wichtig, wenn es darum geht, herauszufinden, was der Grund für die Beschwerden sein könnte.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 17. November 2022, 19:30 Uhr