Interview

Bremer Arzt schildert Eindrücke aus dem Erdbebengebiet

Wie ein Bremer Arzt den Erdbebenopfern in der Türkei hilft

Bild: Cemsid Kiy

Cemsid Kiy ist Arzt aus Bremen – und jetzt im Erdbebengebiet in der Türkei. Mit uns hat er darüber gesprochen, wie die Lage dort ist und was die Menschen wirklich brauchen.

Herr Kiy, Sie sind zurzeit im Erdbebengebiet in der Türkei und helfen vor Ort. Wo genau sind Sie und seit wann sind Sie da?

Wir sind vor einer Woche losgefahren und am vergangenen Mittwoch angekommen. Wir sind im Süden der Türkei, genauer gesagt in Samandağ in der Provinz Hatay.

Wie ist die Situation dort aktuell?

Ein Großteil der Gebäude ist zerstört und auf jeden Fall nicht mehr bewohnbar. Es gibt natürlich eingestürzte Gebäude, aber auch die Häuser, die noch stehen, sind oft nicht mehr bewohnbar. Die erste Etage ist eingesackt, es fehlt eine Wand, sie stehen schief oder haben Risse – bewohnbar ist kaum noch ein Gebäude. Außerdem sind viele Straßen beschädigt. Oft liegen Kleidungsstücke auf der Straße, die wurden dann von Menschen als Spende hergebracht, aber niemand braucht sie hier.

Viele Menschen sind draußen und schlafen in Zelten, die verteilt wurden. Sobald es Abend wird, zünden die Leute irgendwas an, um sich warm zu halten. Nachts fällt die Temperatur auf unter 0 Grad, es ist teilweise sehr sehr kalt.

In einigen Orten ist die Lebensmittelversorgung nicht optimal und Trinkwasser und fließendes Wasser sind oft ein Problem. Es kommen zwar Lieferungen mit kleinen Plastikflaschen an, die dann getrunken werden können, aber an Duschen ist in einigen Teilen gar nicht zu denken.

So langsam zeichnet sich der Mangel auch in den Krankheitsbildern ab, die Anzahl an Durchfallkrankheiten, Atemwegserkrankungen und Krätze-Fällen hat zugenommen. Die Krätze geht jedoch gerade erst los.

Wie laufen Ihre Tage als Helfer aktuell ab? Gibt es so etwas wie Routinen?

Routine gibt es für uns nicht, dafür ist alles zu dynamisch. Wir sind als Vorausteam des ASB (Anmerkung der Redaktion: Arbeiter-Samariter-Bund) hingefahren, um die Lage zu checken. Aktuell sind wir drei Leute.

Unsere Aufgabe ist es, zu schauen, wo der ASB sinnvoll helfen kann. Wir sind also direkt in stark betroffene Regionen und kleinere Orte gefahren und haben uns dort ein Bild der Lage gemacht. Wie zerstört sind die Gebäude? Wie sind die Leute aufgestellt? Wo kommt wie viel Hilfe an? All das mussten wir in Erfahrung bringen. Zusätzlich dazu haben wir direkt eine kleine Trinkwasseraufbereitungsanlage mitgebracht, die circa 200 Liter in der Stunde reinigen kann. Später kommt eine, die 2.500 Liter in der Stunde schafft.

Außerdem vernetzen wir uns mit lokal Regierenden, den Behörden sowie nationalen und internationalen Organisationen. Es ist ein großer bürokratischer Akt bis wir endlich arbeiten dürfen.

Wie verändert sich die Arbeit der Hilfeleistenden nach so einer Katastrophe?

Zunächst geht es die ersten Tage um Such- und Rettungsaktionen und um die Versorgung großer Wunden und schweren Verletzungen. Dann nach vier bis fünf Tagen geht es los, dass große Verletzungen weiter versorgt werden müssen, um Wundinfektionen zu verhindern. Außerdem führen die äußeren Umstände ja zu anderen Erkrankungen, die dann ebenfalls behandelt werden müssen.

Wie kann ich von Bremen aus am besten helfen?

Die Antwort darauf ist Geld. Sachspenden ergeben hier keinen Sinn, denn 90 Prozent der Türkei funktioniert ja und Dinge können hierherkommen. Die Verteilung von Lkw aus Deutschland ist schwierig. Tatsächlich sind auch die vielen kleinen Autos und Menschen, die Dinge bringen wollen, schwierig. Vor einer Woche haben wir für zwei Kilometer vier Stunden gebraucht, weil es so verstopft war und super viele Leute rein- und rausgefahren sind aus der Region. Jetzt hat sich die Lage aber schon entspannt.

Jetzt ist ja nicht nur die Türkei von dem Erdbeben betroffen, sondern auch Syrien. Wie würden Sie die Lage dort einschätzen? Wie kann den Menschen dort am ehesten geholfen werden?

Da ist die Lage auf jeden Fall noch einmal schwieriger. Ich habe jetzt gelesen, dass dort einige Grenzen offen sind, aber auch da sind private Sachspenden schwierig.

Wer in Syrien helfen will, sollte sich größere und vertrauenswürdige Organisationen raussuchen, die auch schon vor dem Erdbeben dort waren und dahin Geld spenden. Allerdings bin ich nicht vor Ort und kann die Situation deshalb auch nicht perfekt einschätzen.

Sie waren in der Vergangenheit bereits in Lesbos und haben dort Geflüchteten geholfen, jetzt sind Sie nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei. Was bewegt Sie dazu, in Krisengebiete zu gehen?

Das Setting ist ein anderes, aber von der Arbeit her ist es eigentlich ähnlich, auch wenn ich auf Lesbos eher behandelt habe. Aber die Beweggründe sind die gleichen: Hier wird Hilfe gebraucht und ich kann einen winzigen, winzigen Beitrag dazu leisten. Auch der in Deutschland ja sehr große ASB ist nur ein winziger Baustein, aber es ist ein Beitrag. Und wenn ich den leisten kann, tue ich das. Die Arbeit muss gemacht werden und es fühlt sich gut an, dass ich das machen kann.

Welches Erlebnis der letzten Tage war besonders einprägsam für Sie?

Ich habe mich mit einer Ärztin darüber unterhalten, wie viele Ärzte normalerweise dort arbeiten. Dann ist die Frau in Tränen ausgebrochen, denn aktuell sind es nur zwei. Ein Bruchteil der Menschen, die dort sonst arbeiten.

Es kommen aber auch aus der ganzen Türkei viele Freiwillige her. Helfer sind unbedingt notwendig, denn es wird noch lange dauern, bis hier wieder Normalität einzieht. Die Infrastruktur ist völlig zerstört und man kann es sich kaum vorstellen, dass das auf Dauer so weitergehen kann.

Unser Interview wird kurz von einem weiteren Nachbeben unterbrochen, Sirenen heulen. Das Beben ist schnell wieder vorbei. Es ist eines der ersten Nachbeben, die Kiy aktiv wahrgenommen hat.

Wie gelingt es Ihnen, sich von dem Leid, das Sie dort miterleben, abzugrenzen?

Ich versuche nicht, mich aktiv davon abzugrenzen. Ich nehme alles auf. Es gibt natürlich mal Momente, die ich als schlimmer empfinde, aber der Fokus liegt auf dem, was wir hier machen.

Wenn ich wieder zurück bin, werden bestimmt ein paar Gedanken aufkommen, aber wird sind im Team und sprechen viel. Außerdem gibt es vom ASB immer ein Angebot, wenn wir Hilfe bei der Verarbeitung nach solchen Einsätzen brauchen und alle haben einen geschärften Blick drauf.

Mehr zum Thema "Erdbeben in der Türkei und in Syrien":

Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 11. Februar 2023, 19:30 Uhr