Ezidische Community in Bremen erinnert an Völkermord vor 10 Jahren
In Bremen gedenken die Eziden der Opfer des Völkermords in Shingal im Irak vor zehn Jahren. Doch wer sind die Eziden eigentlich und wie geht es ihnen in Bremen?
Anlässlich des zehnten Jahrestages des Völkermordes an den Eziden lädt das ezidische Kulturzentrum an diesem Samstag zu einer Gedenkfeier in die Räumlichkeiten des Vereins ein. "Wir haben ein Rahmenprogramm für zwei bis drei Stunden. Vielleicht wird es auch Zeitzeugenberichte geben", sagt der Vorsitzende des ezidischen Kulturzentrums Veysi Akan. "Wir wollen auch der Vermissten gedenken, nach denen die internationale Gemeinschaft bis heute noch nicht systematisch gesucht hat", sagt Güli Tunc. Sie ist ebenfalls Mitglied im Vorstand des Kulturzentrums und Ansprechpartnerin für ezidische Frauen in Bremen.
Die Vereinten Nationen, das EU-Parlament und einige Länder, darunter Deutschland, erkennen die Gräueltaten des IS in Shingal mittlerweile als Völkermord an.
Es ist richtig, dass der Völkermord anerkannt wird, aber man muss die Menschen auch vor Ort beim Wiederaufbau unterstützen.
Veysi Akan, Vorsitzender des ezidischen Kulturzentrums
Die Stadt ist zwar mittlerweile vom IS befreit worden, die Lebensumstände sind laut dem 44-Jährigen allerdings katastrophal: "Shingal ist eine zerstörte Stadt. Die Leute haben kein Dach über dem Kopf und die medizinische Versorgung ist gleich null." Auch deswegen sei es wichtig, an den Völkermord zu erinnern.
Was ist 2014 in Shingal geschehen?
Am dritten August nahm der IS Shingal im Nordirak ein. Die Vereinten Nationen gehen von 5.000 bis 10.0000 meist männlichen Eziden aus, die hingerichtet wurden. Etwa 7.000 ezidische Mädchen und Frauen wurden zwangsislamisiert und Opfer sexualisierter Gewalt. Im Anschluss wurden viele von ihnen als Sklavinnen auf Märkten verkauft.
"Die Meinung der Frau ist in jeglichen Aspekten der ezidischen Gesellschaft von hoher Bedeutung. Demnach war es das Ziel des IS, die Frau zu missbrauchen, um den Mann dadurch zu schwächen und zu entwürdigen", sagt Tunc. In der ezidischen Community gibt es ein Wort für den Völkermord: Fermana Êzidîyan. "Ich würde es als Genozid oder Massaker übersetzen", sagt die 43- Jährige.
Akan erinnert sich daran, wie die Nachrichten aus Shingal auf ihn gewirkt haben: "Die Älteren haben uns schon immer von Verfolgung und Genoziden erzählt, aber wir konnten es uns als Kinder nicht vorstellen. Ab 2014 konnten wir uns dann aber in unsere Großeltern hineinversetzen."
Die Folgen des Völkermords ziehen sich bis heute. "Viele begehen im Nachhinein Suizid", sagt Tunc. Beide Vorstandsmitglieder fordern daher mehr therapeutische Hilfe für Betroffene. "Eine Therapie zu bekommen dauert aber einfach wahnsinnig lange", sagt Akan. Doch selbst diejenigen, die einen Platz bekommen, haben möglicherweise gar nicht so viel davon. "Viele brauchen einen Übersetzer. So ist es aber noch schwerer darüber zu reden", sagt Tunc.
Außerdem sitze die Scham bei Opfern sexualisierter Gewalt tief: "Die ezidischen Frauen wurden vergewaltigt, haben Kinder mit diesen IS-Männern zur Welt gebracht, wurden zwangsislamisiert, trugen das Kopftuch und lebten nach den Regeln des fremden Glaubens."
Was ist das Ezidentum?
ŞefikTagay und Serdar Ortaç, die beide seit vielen Jahren zum Ezidentum forschen, schreiben in einem Buch der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg über das Fehlen des Bösen in der ezidischen Religion: "Nach ezidischem Grundverständnis wäre Gott schwach und machtlos, wenn er noch eine zweite Kraft neben sich gelten und agieren lassen würde." Daher sei sogar die Aussprache des Namens des Bösens, wie es ihn in anderen Religionen gibt, ein blasphemischer Akt.
Der IS behauptet, dass wir das Böse anbeten. Dabei gibt es das Böse in unserer Religion überhaupt nicht.
Veysi Akan
Außerdem zeichnet sich das Ezidentum durch die mündliche Überlieferung aus. Akan führt das auf die jahrhundertelange Verfolgung zurück: "Wir hatten Bücher und Schriftstücke, die vernichtet wurden. Die Geistlichen haben deswegen die Rituale und Verse immer wieder an die nächste Generation weitergegeben. Es gibt mittlerweile Überlegungen, alle Texte und Gebete von den heiligen in Lalish zusammenzutragen." Lalish ist die heilige Stätte der Eziden im Nordirak. "Die neue Generation will etwas lesen. Man muss mit der Zeit gehen, ich bin da sehr offen für", sagt Tunc.
Wie ist die ezidische Gesellschaft strukturiert?
Die ezidische Gesellschaft ist in drei Kasten unterteilt: "Die Shex führen Zeremonien und Rituale durch. Die Pir haben die Aufgabe Segnungen durchzuführen und religiöses Wissen weiterzugeben. Die meisten Eziden gehören aber zu den Laien, den Mirids", sagt Akan. Wie Tunc gehört auch er dieser Kaste an. Jeder Mirid habe die Pflicht, sich einen Shex und einen Pir auszusuchen, die ihn in religiösen Fragen leiten. "Es gibt aber keine soziale Hierarchie zwischen den Kasten, wir haben nur verschiedene Aufgaben", sagt Tunc.
Als Ezide gilt dabei nur, wer zwei ezidische Eltern hat, eine Konversion ist nicht möglich. Dies schließt Heiraten außerhalb der Gemeinschaft aus. Bei Eheschließungen in der Community gilt das sogenannte Endogamieverbot, das heißt, dass Ehen zwischen den Kasten verboten sind.
Laut Tagay und Ortaç wird das Endogamieverbot durchaus kritisch diskutiert. Sie zitieren in ihrem Buch Umfragen unter überwiegend jüngeren Eziden, die in Deutschland schon in der dritten oder vierten Generation leben. Die Studie wurde nach dem Völkermord durchgeführt. Die Befragten sahen die Heiratsregeln zu 43,3 Prozent unproblematisch, während 18,9 Prozent sie vollständig ablehnten. "In den Medien heißt es oft, dass wir nicht frei wären. Viele Jugendliche glauben das und es ist unsere Aufgabe als ältere Generation, den Kindern zu erklären, warum wir diese Kasten haben", sagt Akan dazu.
Wie geht es den Eziden in Bremen?
"Die Eziden fühlen sich als Teil von Bremen, in den letzten Jahren sind wir aber oft daran verzweifelt, dass wir so lange keine Räumlichkeiten gefunden haben", sagt Akan. Seit 2009 seien sie auf der Suche nach einem Ort für das Kulturzentrum gewesen. Erst vor zwei Jahren hätten sie Räume gefunden, die aber eigentlich zu klein seien.
Es wäre schön und gut, wenn wir mehr Unterstützung vom Land Bremen bekämen.
Veysi Akan
Übereinstimmend berichten Tunc und Akan von Anfeindungen im Internet. Beide beunruhigt ein Video auf Tiktok, in dem ein Islamist auf kurdisch zum Mord an Eziden aufgerufen habe. "Wir haben versucht das anzuzeigen, aber passiert ist nichts", sagt Akan. Er wünscht sich mehr Aufklärung, um Diskriminierungen vorzubeugen. "Schüler berichten von Diskriminierung, da brauchen wir mehr Aufklärung an den Schulen, damit so etwas nicht mehr passiert."
Wenn man ihn fragt, was er sich noch wünscht sagt er: "Es ist wichtig, dass die Abschiebungen der Eziden deutschlandweit gestoppt werden, aufgrund der Verfolgung". Er bezieht sich damit auf immer häufigere Abschiebungen von Eziden aus Deutschland in den Nordirak.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, 3. August 2024, 9:40 Uhr