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Haben plötzlich alle ADHS? Bremer Experten klären auf

Ein Mann mit angestrengtem Gesichtsausdruck fasst sich mit beiden Händen an den Kopf

Haben plötzlich alle ADHS? Bremer Experten klären auf

Bild: dpa | Westend61/Joseffson

Fehlende Konzentration, Vergesslichkeit: Das können Symptome von ADHS sein. Immer mehr Erwachsene berichten von ihrer frischen Diagnose. Aber ist das nicht eine Kinderkrankheit? Die Fakten.

Prominente wie die Moderatorin und Autorin Sarah Kuttner oder der Comedian Felix Lobrecht haben ihre ADHS-Diagnose als Erwachsene bekommen. ADHS steht für "Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung". Betroffene berichten davon, dass sie alle Reize gleich stark wahrnehmen, ungefiltert. Sie können sich – vereinfacht gesagt – schlecht konzentrieren, lassen sich leicht ablenken, bringen Aufgaben nicht zu Ende. Das hat oft Auswirkungen auf alle Lebensbereiche: Beziehungen werden belastet, es gibt Problemen im Beruf. "In meinem Kopf wohnen hundert kleine Affen", singt Kuttner und berichtet auf Instagram über die Herausforderungen mit ADHS.

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Auch bei Tik-Tok ist das Thema angekommen, immer mehr Menschen machen Selbsttests und fragen sich: Konzentrationsschwächen habe ich auch – ist das ADHS? Diese Erkrankung ist in Wirklichkeit sehr komplex. Das sollten Sie darüber wissen.

Bekommen mehr Erwachsene im Land Bremen als früher eine ADHS-Diagnose?

Ja. Das zeigen die Zahlen für das Land Bremen von der AOK sowie der HKK. Den Krankenkassen zufolge ist in den vergangenen Jahren bei immer mehr Erwachsenen ADHS festgestellt worden. Bei der AOK hat sich die Zahl seit 2011 vervielfacht: Damals waren es 154 Erwachsene, zehn Jahre später 635. Der Anteil der Erwachsenen an allen ADHS-Diagnosen stieg demnach von knapp 16 auf 40 Prozent.

ADHS-Diagnosen gesamt und bei Erwachsenen, AOK in Bremen/Bremerhaven

ADHS Versicherte AOK Bremen / Bremerhaven 977 154 Erwachsene15.8 Prozent 1.474 1.596 538 Erwachsene36.5 Prozent 635 Erwachsene39.8 Prozent 2011 2020 2021

Ein ähnlicher Trend bei der HKK: Seit 2014 ist die Zahl der ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen stetig angestiegen. Von 156 auf 407 im vergangenen Jahr. Die HKK gibt außerdem den Anteil der ADHS-Diagnosen an allen erwachsenen Versicherten im Land Bremen an. Demnach waren vor neun Jahren 0,2 Prozent betroffen, 2022 waren es 0,5 Prozent.

ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen und Anteil an allen erwachsenen Versicherten, HKK Land Bremen

ADHS Versicherte hkk Bremen / Bremerhaven 156 2014 209 2016 257 2018 314 2020 407 2022 0,2% 0,22% 0,32% 0,38% 0,48%

Laut dem Diagnostiksystem für psychische Störungen (DSM 5) sind etwa 2,5 Prozent der erwachsenen Allgemeinbevölkerung betroffen, wie das vom Bund unterstützte ADHS-Inforportal berichtet. Eine weitere repräsentative Studie zeige, dass etwa 4,7 Prozent der erwachsenen Deutschen von ADHS betroffen sind. Im Kindesalter sind mehr männliche als weibliche Personen betroffen. Bei Erwachsenen sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede deutlich geringer oder nahezu ausgeglichen.

Heißen diese Zahlen, dass immer mehr Menschen ADHS bekommen, wenn sie erwachsen sind?

Nein. Erwachsene, bei denen ADHS festgestellt wird, hatten diese Erkrankung schon als Kind. Das sagen der niedergelassene Bremer Psychiater John Koc und die Psychiaterin Katrin Rautenberg vom Ameos Klinikum. "Es gehen mehr Erwachsene zu einem Arzt, um das zu testen. Unsere Warteliste ist lang", erklärt Rautenberg die ansteigende Zahl an Diagnosen. Sie findet das eine positive Entwicklung, weil die Stigmatisierung zunehmend wegfalle und Menschen so einfacher Hilfe suchten. Das sieht auch Koc so und zeigt sich froh, dass Betroffene so eine angemessene Behandlung bekommen.

Die Zahl der von ADHS Betroffenen hat nicht zugenommen, aber der Bekanntheitsgrad ist größer. Gott sei Dank. Und dann machen wir halt eine Testung – und zum ersten Mal erfahren erwachsene Betroffene von einem Psychiater eine vernfünftige Behandlung.

John Koc, Psychiater in Bremen

Wie wird ADHS medizinisch diagnostiziert?

Laut Psychiater Koc ist die Diagnostik nicht kompliziert, aber am Anfang sehr zeitintensiv. Der Test erfasse sowohl die Gegenwart als auch die Kindheit zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr. Denn ADHS ist laut Definition eine Erkrankung des Kindes- und Jugendalters, weshalb man nachweisen muss, dass die Symptome schon damals aufgetreten sind. Im Ameos-Klinikum gehören laut Psychiaterin Rautenberg psychologische Tests zum Verfahren, außerdem werden, wenn möglich, die Eltern befragt. Auch die Grundschulzeugnisse werden gesichtet. Außerdem werden Vorberichte anderer Ärzte geprüft, "weil die meisten schon Erfahrungen im psychiatrischen System gemacht haben, wenn sie als Erwachsene zu uns kommen", sagt Rautenberg weiter. Das heißt, viele Erwachsene wurden vorher wegen anderer psychischer Erkrankungen behandelt.

Kann man auch einen Test im Internet machen?

Ja, sagt Psychiaterin Rautenberg. Das sei eine erste Orientierung. Wer sich fragt, ob er betroffen ist, sollte sich seine Biografie kritisch angucken – und prüfen, ob die Symptomatik wirklich durchgehend da ist. Oder ob es nur durch äußere Umstände ausgelöst wurde. Selbsttests könnten zeigen, ob es sich lohnt, auf eine ausführliche Testung zu warten. Bei einem Test sollte man aber auf seriöse Anbieter achten.

Außerdem, so Rautenberg, wollten viele Erwachsene gar keine Behandlung mit Medikamenten oder eine Psychotherapie. Ihnen reiche häufig eine Erklärung dafür, dass sie sich "schon immer anders gefühlt" hätten. Und diese Erklärung, dass sie anders mit Reizen umgehen, reiche vor allem dann aus, wenn die Symptome kein Leiden erzeugten.

Letztendlich ist es nicht nur eine Erkrankung, sondern eine Normvariante unserer Gehirnfunktion. Und wenn Menschen sich in guten Nischen zurechtfinden, hat das gar keinen Krankheitswert – denn Krankheit muss auch Leiden erzeugen.

Katrin Rautenberg, stellvertretende Chefärztin Psychotraumatologie, Ameos-Klinikum
Ein Kind hat den Kopf seitlich auf einen Tisch gelegt. Im Vordergrund eine Tabellenpackung mit der Aufschrift Ritalin
Ritalin kann bei Kindern mit ADHS dafür sorgen, dass sie weniger Misserfolge erleben und so mehr Lebensqualität haben. (Symbolbild) Bild: dpa

Es muss also nicht jeder einen medizinischen Test machen?

Nur, wenn man eine gesicherte Diagnose erhalten will und eine entsprechende Behandlung. Koc erklärt aber auch: Nicht alles, was wie eine ADHS aussieht, ist eine ADHS. Aber wenn folgende Kern-Symptome vorhanden sind, sollte man zumindest bei jedem psychiatrischen Patienten eine Testung machen.

  • das Aufschieben von Tätigkeiten (Verschieberitis)
  • eine verkürzte Aufmerksamkeitsspanne
  • Vergesslichkeit

Denn viele unerkannte ADHS-Betroffene würden jahrelang wegen anderer psychatrischer Erkrankungen behandelt. Manchmal kann die Behandlung wirkungslos bleiben.

Was steckt dahinter, dass ADHS-Betroffene wegen anderer psychischer Erkrankungen behandelt werden?

Die Symptome können schwerwiegende Folgen haben. Wer wichtige Termine vergisst, bekommt Probleme in privaten Beziehungen und im Beruf. Wer leicht ablenkbar ist und Aufgaben nicht zu Ende bringt ebenso. Viele Erwachsene mit ADHS haben so immer wieder Misserfolge, Selbstzweifel und können sich nicht erklären, weshalb sie so "unzuverlässig" sind, weil sie das nicht als Symptom erkennen können. Daraus könen sich Angststörungen und Depressionen entwickeln. Christoph Lockingen von der Selbsthilfe Bremen geht davon aus, dass 80 Prozent der ADHS-Betroffenen Depressionen bekommen. Deswegen ist für Psychiater Koc eine frühe Diagnose so wichtig, dann könne man von Beginn an angemessen behandeln und so Misserfolge und andere negative Folgen vermeiden.

ADHS-Medikamente schützen vor Abhängigkeit, die machen nicht abhängig. Wenn ADHS diagnostziert wurde, sollten Mütter ihre Kinder behandeln lassen. Man kann es nicht oft genug sagen.

John Koc, Psychiater in Bremen

Koc arbeitet seit 37 Jahren mit ADHS-Erkrankten. Er sagt, laut Studien hätten ein Drittel aller Drogenabhängigen ADHS, die als Kind nicht erkannt wurde. Drogen sind unter anderem ein Weg, den Betroffene suchen, um einerseits die Aufmerksamkeitsfähigkeit zu erhöhen und andererseits, um ruhiger zu werden.

Eine unerkannte ADHS kann häufig auch Kriminalität, Alkoholismus und Persönlichkeitsstörungen zur Folge haben oder damit einhergehen.

Wie kann man ADHS behandeln?

Nicht jede ADHS muss medikamentös behandelt werden, sagt Psychiater Koc. Aber bei einer diagnostizierten ADHS mit klinischer Symptomatik sei eine multimodale Behandlung dringend angezeigt. Und zwar mit "Medikamenten, Coaching, Psychoedukation, Psychotherapie und Sport in jedem Lebensalter".

Psychiaterin Rautenberg empfiehlt eine Kombination aus Psychotherapie und – wenn Menschen es möchten – einer medikamentösen Intervention. Und begleitend dazu eine Selbsthilfegruppe.

Wo bekommt man Hilfe?

Bei Psychiatern und in psychiatrischen Kliniken, die ADHS diagnostizieren und behandeln. Außerdem gibt es in Bremen eine Selbsthilfegruppe. Für die gegenseitige Unterstützung Betroffener wirbt Gruppenmitglied Christoph Flockingen. Dort trifft man Menschen, die die gleichen Erfahrungen gemacht haben und machen, wie man selbst. Gemeinsam mit anderen kann man zum Beispiel besprechen, welche Behandlung für einen persönlich am besten geeignet ist.

Ja. Alle, die ADHS haben, sollten diese Schwelle am Anfang überwinden und in eine Selbsthilfegruppe gehen. Dort sind anderen Leute, denen geht es genauso. Es tut so gut, in einer Herde zu sein, von Menschen, die das auch haben – die einen verstehen.

Christoph Flockingen, ADHS-Selbsthilfegruppe Bremen

ADHS: So lebt ein Bremer mit der Diagnose

Bild: Radio Bremen

Autorin

  • Autorin
    Birgit Reichardt Redakteurin und Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 25. August 2023, 19:30 Uhr