Mitbewohner auf Zeit: Wie es wirklich ist, Geflüchtete aufzunehmen

Zwischen Bürokratiemarathon und Sprachbarrieren: Viele Bremer haben spontan Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Warum das nicht immer einfach ist – und wo es Hilfe gibt.

Sonntagabend, Ende März. Die Kindergarten-Chatgruppe lässt das Handy brummen. Eine Mutter aus der Ukraine sucht für sich und ihren siebenjährigen Sohn eine Bleibe in Bremen. Katharina Koch und ihr Mann Martin lesen die Nachricht. Sie haben ein Reihenhaus in Bremen-Hastedt und Platz in ihrem Gästezimmer und -bad. Am Mittwoch darauf – es ist der 30. März – stehen sie am Bremer Flughafen und holen Maria, Rufname Mascha, und ihren Sohn Mischa ab.

Drei Monate später sitzen die Kochs in ihrer offenen Küche. Seit einer Woche wohnen Mascha und Mischa nicht mehr in ihrem Gästezimmer, sie sind in ihre eigene Wohnung in der Bremer Überseestadt gezogen. Die Kochs blicken zurück.

Glück mit Anträgen und Ämtern – Bürokratie-Marathon bleibt

Ein Mann und eine Frau stehen in ihrem Garten und lächeln in die Kamera.
Martin und Katharina Koch würden jederzeit wieder Geflüchtete bei sich aufnehmen – auch, wenn die vergangenen drei Monate geprägt waren von Behördengängen und manchmal auch von Verständigungsproblemen. Bild: Radio Bremen | Lina Brunnée

Direkt am Donnerstag nach der Ankunft begleitet Katharina Koch die beiden zum Sozialamt in die Vahr. "Wir hatten unglaubliches Glück – direkt auf dem Flur haben wir die Sachbearbeiterin getroffen und 20 Minuten später waren wir durch und sind wieder raus", erzählt Katharina Koch. Die Kochs hatten oft Glück mit Anträgen und Ämtern, sagen sie.

Doch die Bürokratie sei trotzdem ein "richtiges Monster" gewesen. Ohne Hilfe könne das jemand mit geringen Sprachkenntnissen kaum bewältigen. "Zum Glück waren wir über die Whatsapp-Gruppe vernetzt mit anderen Familien, die Geflüchtete aufgenommen haben. Die konnten uns oft weiterhelfen", sagt Katharina Koch.

So hilft Vernetzung den Gastgebern

Dass Vernetzung nicht nur den Geflüchteten, sondern auch den Gastgebern helfen kann, weiß auch Franziska Suckut. Sie arbeitet bei der Freiwilligen Agentur in Bremen und koordiniert das im April ins Leben gerufene Projekt "Ankern". Das Projekt hat zwei Ziele: Gastgeber vernetzen und Paten für Geflüchtete finden. Die Paten helfen, wenn die Geflüchteten in eine eigene Wohnung gezogen sind.

Zur Vernetzung der Gastgeber organisiert Suckut zum einen Treffen – parallel dazu gebe es auch über die Internet-Plattform Slack eine Vernetzung. "Gut 100 Gastgeber und Paten sind bei Ankern vernetzt. Über Slack können sie dort zu Themen wie Sozialleistungen, Registrierung, Schule und Freizeit gegenseitig beraten", erzählt Suckut. Ein Vorteil für Geflüchtete aus der Ukraine sei, dass viele Formulare mittlerweile ins Ukrainische oder Russische übersetzt seien.

Langer Weg voller Emotionen zur eigenen Wohnung

Vor allem das Mieten der Wohnung sei herausfordernd gewesen, erzählen die Kochs. Bereits Ende April begannen sie mit der Suche. Obwohl lange nicht klar war, ob Mascha in Bremen bleiben will. Ihre Mutter und ihr Mann leben nach wie vor in der Ukraine. Doch sie und Mischa sind aus Charkiw geflohen – von ihrer Stadt ist kaum etwas übrig. Vorerst bleiben sie in Bremen.

Die Wohnung in der Überseestadt haben die Kochs und Mascha schon Anfang Mai besichtigt – doch damals habe sie noch keinen Wohnberechtigungsschein gehabt. Den zu beantragen dauert vier Wochen.

Wenn es Probleme bei dem Mieten einer Wohnung gebe, könnten Geflüchtete versuchen beim Mieterschutzbund Hilfe zu suchen, sagt Suckut.

Drei Monate Warteschleifen, Anrufe und E-Mails

Kurz bevor mit dem Mietvertrag alles unter Dach und Fach ist, flattert ein Brief vom Sozialamt bei den Kochs ein: Die Leistungen von Mascha werden gestrichen, sie solle sich zu einem Termin melden. Die Lage kann Katharina Koch schnell klären: Für Mascha ist ab jetzt nicht mehr das Sozialamt, sondern das Jobcenter zuständig. "Da wäre eine Info in dem Brief schon gut gewesen – so haben wir uns doch sehr erschreckt", sagt Katharina Koch.

Martin Koch hat in den drei Monaten sehr viel Zeit in Warteschleifen und am Telefon zugebracht. "Das ging nur, weil ich mich im Homeoffice entsprechend organisieren konnte", sagt er. Die Kochs sind sich sicher, dass Mascha und Mischa sonst noch keine Wohnung hätten. Bis heute sind Fragen offen, die auch sie als Bremer nicht verstehen.

Was für Kosten auf Gastgeber zukommen

Geld kann ganz unerwartet zu einem Thema in Gastfamilien werden. Vor allem die Energiekosten bereiten vielen Kopfzerbrechen, weil die Gaspreise bereits drastisch gestiegen sind und der Verbrauch ebenso steigt, wenn mehr Menschen in den Wohnungen leben.

Birgit Reichardt, Redakteurin bei Radio Bremen, und ihr Mann haben zwei geflüchtete Frauen aufgenommen. Als sie im März das Zimmer bezogen war es kalt, natürlich wurde geheizt. Wochen später bemerkten die Gastgeber, dass die Heizung seit Ankunft der Frauen auf Hochbetrieb lief. "Ein Versehen", sagt Reichardt. In der Ukraine können die Bewohner die Heizung offenbar nicht selbst regulieren, "sie wussten nicht, dass man sie runterdrehen kann", so Reichardt weiter. "Aber jetzt haben wir ein bisschen Angst vor der Nachzahlung, die auf uns zukommt. Wir wissen nicht, ob das übernommen wird. Gerade bei den Energiepreisen machen wir uns schon Gedanken."

Kostenerstattung oft nicht einfach

Tatsächlich sei es mit der Erstattung dieser Kosten oft gar nicht so einfach, sagt Suckut. Wenn es einen Untermietvertrag gebe, dann übernehme es das Jobcenter. Seit Juni beziehen die Geflüchteten aus der Ukraine von dort ihre Leistungen. Oft würde dafür jedoch ein abgeschlossener Wohnraum notwendig sein. Doch den gebe es selten. Meist ist ein Zimmer vorhanden, Bad und Küche würden geteilt.

Was man auf jeden Fall tun sollte, ist, die Abschlagszahlung beim Energieanbieter erhöhen, damit deutlich sichtbar ist, dass eine Veränderung stattgefunden hat.

Franziska Suckut, Projektkoordinatorin "Ankern" bei der Freiwilligen Agentur Bremen

Allgemeine Informationen und Hinweise, wie zum Beispiel Mehrkosten refinanziert werden können, finden Geflüchtete und Gastgeber auch auf der Homepage von "Proasyl", erzählt Suckut.

Kommunikation unter den Erwachsenen oft schwierig

Neben den Kosten und der Bürokratie gestaltete sich auch das Zusammenleben nicht immer reibungslos, erzählen die Kochs. Zumindest unter den Erwachsenen. Bei den Kindern war das anders.

Die Kochs haben zwei Kinder, Hannes und Marla. Hannes ist vier Jahre alt, bald fünf, Marla ist zwei. Die Kommunikation unter den Kids ist von Anfang an kein Problem. Die Jungs quasseln einfach jeweils auf ihrer Sprache los. Zwischen den Erwachsenen ist das anders. Mascha spricht ein wenig Englisch und die Übersetzungs-Apps stoßen oft an ihre Grenzen.

"Wir hatten oft das Gefühl, dass Mascha uns möglichst nicht zur Last fallen möchte", sagt Martin Koch. So haben sie und Mischa anfangs immer die Küche verlassen, sobald die Kochs nach Hause kamen.

Nur selten hat sie von der Flucht erzählt. Einmal hat sie ein Video von einer Autofahrt gezeigt. Direkt neben ihrem Wagen explodierten Bomben und zerstörten ein Haus – da wird einem schon anders.

Katharina Koch, Gastgeberin einer Geflüchteten und ihres Sohnes

Franziska Suckut betont, dass Probleme in der Kommunikation nicht nur auf die Sprachbarriere zurückzuführen sein. Schließlich ziehe man innerhalb weniger Tage ganz spontan mit Menschen zusammen, die man nicht kennt. "Wenn es da zu Herausforderungen kommt, hat das oft weniger damit zu tun, wo jemand herkommt, als vielmehr damit, dass wir alle unterschiedlich sind", sagt Suckut. Falls es doch wichtig sei, dass alles genau verstanden werde, könne man auf Sprachmittler zurückgreifen.

Wichtig ist als Gastgebender sensibel zu sein und zu reflektieren, wenn mich etwas stört. Vielleicht habe ich unbewusst doch eine Erwartungshaltung? Ich rate, immer wieder innezuhalten und die Situation aus der Perspektive des anderen zu sehen.

Franziska Suckut, Projektkoordinatorin "Ankern" bei der Freiwilligen Agentur Bremen

Was, wenn alles zu viel wird?

An den Wochenenden fahren die Kochs wann immer es geht mit ihrem Wohnmobil weg. Zwischendurch mal was anderes sehen hilft. Doch nicht allen Gastgebern und Gastgeberinnen gelingt das. Die Freiwilligen Agentur bietet daher Supervision an – als Einzelangebot oder auch in Kleingruppen. Bislang habe davon niemand Gebrauch gemacht, erzählt Suckut.

Außerdem rät sie, wenn es zu viel wird, mehr auf andere Angebote zu verweisen. In Bremen gebe es eine gute Beratungslandschaft, Chats und die Telefonseelsorge kämen noch dazu. Man müsse klare Grenzen ziehen und kommunizieren, wenn man beispielsweise vor dem Schlafengehen nicht mit erschütternden Nachrichten konfrontiert werden möchte.

Was muss noch besser werden?

Als nächste große Aufgabe, bei der die Kochs Mascha helfen, steht die Berufsanerkennung an. Das gehen sie an, sobald ihr Sprachkurs abgeschlossen ist. Trotz der Menge an Bürokratie, der Zeit in Warteschleifen und der Verständigungsschwierigkeiten – die Kochs würden wieder jemanden aufnehmen.

So geht es vielen Gastgebern, mit denen auch Franziska Suckut spricht. Auch, wenn sie jetzt erst einmal eine Pause brauchen. Umso wichtiger sei es, dass Initiativen, die Geflüchteten helfen, unterstützt werden. Als Beispiel nennt Suckut Refugio, die Psychotherapie für geflüchtete Menschen anbietet.

"Von Seiten der Politik wünsche ich mir, dass kritisch auf das eigene Handeln geschaut wird", sagt Suckut. Gerade werden vieles anders gemacht als 2015/2016. Sie wünsche sich einen transparenten Umgang damit und eine Reflexion über diese Situation.

Es gilt auch anzuerkennen, dass es Menschen aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak oft schwerer haben. Sie werden anders behandelt, oft weil die junge Männer sind und ganz anders Projektionsflächen bieten für Vorbehalte – auch, weil ihre Religion eine andere ist.

Franziska Suckut, Projektkoordinatorin "Ankern" bei der Freiwilligen Agentur Bremen

So unterschiedlich haben Geflüchtete ihre Ankunft in Bremen erlebt

Bild: Radio Bremen

Autorin

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 20. Juli 2022, 7:36 Uhr