Interview
Bremer Russland-Experte: Einfluss von Oligarchen auf Putin ist gering

Putin habe sich verkalkuliert, einige Oligarchen aber auch, glaubt der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Michael Rochlitz. Die russische Wirtschaft laufe in eine Katastrophe.
Seit etwas mehr als einem Monat führt Russland gegen die Ukraine Krieg. Der russische Angriff sei "völliger Wahnsinn" und sehr schädlich für Russlands Interessen, glaubt Michael Rochlitz von der Universität Bremen. Der Russland-Experte hat selber lange im Land gelebt und geforscht. Den Krieg in der Ukraine beobachtet er zwar mit wissenschaftlicher Neugier, gleichzeitig überwiegen aber die Sorgen um russische und ukrainische Kolleginnen und Kollegen, die nicht wissen, wie es weitergeht. Wir haben mit ihm über Oligarchen, das Verhalten von Präsident Putin und die Rolle Chinas für die kommenden Monate und Jahre gesprochen.
Herr Rochlitz, wie erleben Sie den Krieg in der Ukraine?
Ich habe fünf Jahre in Russland als Junior-Professor gearbeitet und habe natürlich immer noch sehr enge Beziehungen nach Russland. Sowohl in Russland wie auch in der Ukraine habe ich viele Freunde. In Moskau haben wir ein recht großes Institut aufgebaut, das ist jetzt alles zusammengebrochen.Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ins Ausland geflohen. In meiner Arbeit beschäftige ich mich seit 20 Jahren mit Russland. Man ist furchtbar geschockt von dem, was passiert. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es aber auch faszinierend zu sehen, wie schnell sich die russische Gesellschaft jetzt gerade verändert, und in welche Richtung sie sich bewegt.
Wie bewerten Sie die Art und Weise, wie Russland derzeit agiert?
Die offizielle Begründung für den Krieg ist ja, dass man die Ukraine denazifizieren möchte. Und dafür marschiert man dann mit Panzern ein, die das Z-Zeichen tragen. Dieses Zeichen, der ganze Diskurs und auch die großen staatlich organisierten Meetings, die es jetzt in Moskau gibt: All das erinnert einen schon sehr an die 1930er-Jahre in Deutschland. Das ist sehr erschreckend.
Immer wieder ins Gespräch gebracht werden in der aktuellen Debatte um Sanktionen auch die russischen Oligarchen. Ist Oligarch gleich Oligarch?
Man könnte die Oligarchen vielleicht in drei Gruppen einordnen. Erstens die klassischen Oligarchen, die in den 1990er-Jahren ihre Wirtschaftsimperien aufgebaut haben. Zweitens werden auch Freunde von Putin oft als Oligarchen bezeichnet, die ihn kannten, als er noch nicht Präsident war und deswegen sehr reich geworden sind. Schließlich gibt es dann auch noch die Wirtschaftsbosse in Russland, die einfach auch gute Manager sind und durch ihre Kompetenz in Führungspositionen gekommen sind. Auch sie bezeichnet man manchmal als Oligarchen.
Welche Besonderheiten gibt es bei dem Begriff mit Blick auf Russland?
Der Begriff "Oligarchia" kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Die Macht der Wenigen". Also eine Herrschaft durch eine kleine Gruppe mächtiger Personen. Das Wort "Oligarch", so, wie wir es heute mit Blick auf Russland verstehen, kommt aus den 1990er-Jahren. In der Umbruchphase von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft hat eine kleine Gruppe von Menschen relativ schnell verstanden, dass dieser Wandel auch große Möglichkeiten bietet. Sie hatten bereits kleinere Handelsbetriebe und etwas Geld, waren oft Akademiker oder hatten gute Beziehungen im kommunistischen Machtapparat, und hatten damit Anfang der 1990er-Jahre einen Startvorteil bei den Privatisierungen. Nachdem sie dann große Vermögenswerte hatten, konnten sie auch politischen Einfluss gewinnen. Boris Jelzin wurde mit Hilfe der Oligarchen 1996 wiedergewählt, und von 1996 bis 2000 hat dann eine kleine Gruppe von Oligarchen im Hintergrund politisch die Fäden gezogen.
Konnten die Oligarchen diesen Einfluss bis heute beibehalten?
Ironisch dabei ist, dass sich die Oligarchen Wladimir Putin als Nachfolger für Jelzin quasi selber ausgesucht haben. Putin wurde 2000 Präsident und hat die Oligarchen dann relativ schnell entmachtet. Einige von ihnen mussten ins Ausland fliehen, ihre Fernsehsender verkaufen. Ein Oligarch – Michail Chodorkowski – hat versucht sich Putin politisch entgegen zu stellen. Er wurde festgenommen und in ein Gefangenenlager gesteckt. Das Signal von Putin an alle anderen Oligarchen war damit klar: Jetzt bin ich die Person, die die politische Kontrolle hat.
Welchen Einfluss haben die russischen Oligarchen auf Präsident Putin Ihrer Einschätzung nach?
Heute ist der politische Einfluss der Oligarchen nur noch gering. Ihre Beziehung zu Putin ist ein bisschen wie in einem neofeudalistischen System. Putin als Herrscher erlaubt ihnen, mit ihren Firmen wirtschaftlich aktiv zu sein. Im Gegenzug müssen sie den Staat finanziell unterstützen, zum Beispiel bei großen Ereignissen, wie den Olympischen Spielen oder der Fußball-WM sind sie gefragt. Ihr Eigentum ist nicht sicher, der Staat kann sie jeder Zeit enteignen. Sie haben keine richtige Machtbasis und damit auch keinen politischen Einfluss mehr. Außerdem interessiert sich Putin zunehmend weniger für Wirtschaftsfragen und deshalb auch immer weniger für die wirtschaftlichen Interessen der Oligarchen. Ihn interessieren jetzt eher große Fragen der Geopolitik.
Welche Folgen hat das?
Die einzigen Personen, die noch Zugang zu Putin haben, sind ein kleiner Kreis aus Mitarbeitern der Geheimdienste. Sie haben alle ähnliche Ideen wie Putin. Während der Corona-Pandemie hat sich Putin dann noch weiter zurückgezogen, er lebt seither in seiner eigenen Welt. Dieser Realitätsverlust kann viele Ereignisse erklären, die wir gerade sehen. Warum kam es zu dieser Invasion, die aus so vielen Gründen keinen Sinn ergibt? Ich glaube, es hat sich einfach niemand mehr getraut, Putin zu widersprechen, als er den Befehl zum Einmarsch gab.
Wie hart treffen Ihrer Ansicht nach die aktuell bereits verhängten Sanktionen die russische Wirtschaft?
Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind schon jetzt katastrophal. Dieser Krieg ist ein absoluter Wahnsinn, das wird Russland wirtschaftlich auf Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte, zurückwerfen. Das ist jetzt schon absehbar. Putin hat mit den sehr schnell verhängten Sanktionen nicht gerechnet. Das Einfrieren der Konten, die Abkoppelung vom Bezahlsystem SWIFT und der Rückzug fast aller westlichen Firmen vom russischen Markt. Die Yale University dokumentiert zurzeit, wie viele Firmen noch in Russland sind. Vor einigen Tagen hatten demnach 400 große Firmen das Land bereits verlassen, nur etwa 40 waren noch vor Ort.
Warum sind diese Firmen so wichtig für Russland?
Russland stellt kaum Hoch-Technologiegüter her, die meisten werden importiert. Diese Importe fallen jetzt weg und damit bricht zum Beispiel der Automobil-, Flugzeug- oder Rüstungssektor zusammen. Die Menschen werden arbeitslos. Dann ist da noch der "Brain-Drain". Hochqualifizierte Arbeitskräfte verlassen das Land. Man schätzt deren Zahl derzeit auf bis zu 300.000 Menschen, darunter Wissenschaftler und Computerspezialisten, die bereits im Ausland sind. Das sind riesige Verluste für eine Volkswirtschaft, und diese Leute kommen auch nicht mehr so leicht zurück.
Wie schlägt sich das in Zahlen nieder?
Vor dem Krieg rechnete man mit einem Wachstum der russischen Wirtschaft von zwei bis drei Prozent dieses Jahr. Wenn der Krieg bald aufhört, ist jetzt schon sicher, dass es zu einer Rezession von minus zehn bis 15 Prozent kommen wird. Wenn der Krieg aber weitergeht und weitere Sanktionen kommen, können es auch schnell minus 20 Prozent werden oder mehr. Das wäre ein größerer Einbruch als bei der Finanzkrise 2008 und vielleicht sogar ein größerer Einbruch als Anfang der 1990er-Jahre. Und hierbei ist das große Drama, dass diese Krise völlig selbstverschuldet ist. Sie geht auf das Konto eines einzigen Mannes, Wladimir Putin, dem ganz offensichtlich der wirtschaftliche Schaden mittlerweile egal ist.
Welche weiteren Sanktionen halten Sie für sinnvoll?
Das Ziel der Sanktionen ist ja, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Mit den jetzigen Sanktion bekommen wir das noch nicht hin, auch, weil jeden Tag 500 Millionen Dollar für Öl- und Gasimporte aus dem Westen nach Russland überwiesen werden. Zwei Kollegen von mir haben vor kurzem dazu eine Einschätzung veröffentlicht und kommen zu dem Schluss: Es ist teuer aber durchaus machbar, die Importe zu stoppen. Dann würden Russland die nötigen Ressourcen relativ schnell ausgehen, die man bräuchte, um den Krieg fortzusetzen. Längerfristig wäre so eine Option wahrscheinlich sogar günstiger für Europa, als die Kosten einer weiteren Eskalation des Konflikts.
Welche Rolle spielt China mit Blick auf die russische Wirtschaft und ein mögliches Ende des Kriegs?
China hat sich politisch bisher sehr zurückgehalten. Für die Chinesen läuft es gerade relativ gut. Wenn der Importstopp von Öl und Gas kommt, wird Russland zwangsläufig stark von China abhängig sein. Russland braucht Geld und Technologien, und China ist der einzige Markt, der Russland noch offenstehen wird. China würde Russland dann großzügige Kredite geben und mit diesem Geld wird Russland in China Güter einkaufen. Meine Befürchtung ist, dass aus Russland dann ein zweites Nordkorea werden könnte, autoritär im Inland, und wirtschaftlich völlig abhängig von China.
Ein Ausblick: Wie schätzen Sie den Verlauf der kommenden Wochen und Monate ein?
Es gibt glaube ich drei mögliche Szenarien. Erstens könnte es zu einem Machtwechsel kommen, entweder durch einen Militärputsch oder durch Massenproteste. Eine neue Regierung könnte dann den Krieg beenden. Sowohl ein Putsch wie auch Massenproteste sind aber sehr unwahrscheinlich. Das russische Militär ist traditionell sehr unpolitisch, den letzten Putsch gab es 1825. Und die Bevölkerung wird durch die staatlichen Medien kontrolliert, zurzeit gibt es deswegen noch große Zustimmung für den Krieg.
Die zweite Möglichkeit ist, dass es irgendwann zu einem Waffenstillstand und einer Patt-Situation kommt. Putin bleibt an der Macht, und die Ukraine hängt in der Schwebe zwischen Russland und Europa.
Die dritte Option ist das Abdriften Russlands in eine Art neofaschistischen Albtraum, militärisch aggressiv und in völliger Abhängigkeit von China, vielleicht als eine Art zweites Nordkorea. Leider sind die Szenarien zwei und drei wahrscheinlicher als das erste.