Interview

Bremer Philosophin erklärt, wie uns das Warten Freude machen kann

Bremer Resilienztrainerin erklärt, wie man Warten lernen kann

Bild: dpa | Keystone/Ennio Leanza

Warteschlangen beim Einkauf, Warteschleifen am Telefon, Wartelisten für den Urlaub: Immer wieder müssen wir warten. Eine Bremer Philosophin erklärt, was das Gute daran ist.

Es nervt: das Warten. Und doch müssen wir, so zumindest erscheint es uns, immer öfter warten: auf Fachkräfte, auf Ersatzteile, auf Rückrufe und natürlich auf bessere Zeiten, ohne Krieg und ohne Pandemie. Es fällt uns schwer. Denn "eigentlich" leben wir in einer Zeit, in der sich alles immer stärker zu beschleunigen scheint, auch aufgrund der ständig fortschreitenden Technik. Das Warten erscheint uns wie aus der Zeit gefallen. Warum das so ist und wie wir auch einen Gewinn aus Wartezeiten schöpfen könnten, verrät die Bremer Philosophin Dagmar Borchers.

Frau Borchers, das Warten war früher doch etwas ganz Normales, oder nicht?

Ja. Das wird einem klar, wenn man an Briefe denkt. Man sieht das noch mitunter in Spielfilmen. Dass die Leute bis ins 20. Jahrhundert oft ganz lang auf Post gewartet haben. Oder: Denken Sie an Reisen! Wie lange das früher gedauert hat. Warten ist extrem an die technischen Möglichkeiten gebunden. Und bis in unsere Zeit hinein waren die Gegebenheiten eben oftmals so, dass man gezwungen war, auf vieles sehr, sehr lange zu warten.

Zwei Männer und ein kleines Mädchen sitzen in einer Arztpraxis im Wartezimmer.
Auch im Wartezimmer einer Arztpraxis kann man mehr oder weniger kreativ die Wartezeit verbringen. Bild: dpa | Christin Klose

Wann hat sich das verändert? Ab wann hat das Warten die Menschen zusehends nervös gemacht oder sogar aufgeregt?

Was unsere Zeitwahrnehmung extrem verändert hat, sind die technischen Möglichkeiten, insbesondere das Internet, die Digitalisierung. Dadurch sind wir extreme Schnelligkeit gewöhnt: in der Informationsbeschaffung, in der Umsetzung unserer Interessen, beispielsweise bei irgendwelchen Anmeldungen oder um etwas zu organisieren. Aber auch Schnelligkeit, um Reaktionen zu bekommen. Das taktet, glaube ich, sehr stark unser Zeitempfinden und unsere Erwartungen.

Gleichzeitig hat sich unsere Selbstwahrnehmung verändert. Der Modedesigner Wolfgang Joop hat einmal gesagt: "Jeder ist eine Diva." Ich finde diesen Satz treffend. Wir wollen nicht mehr warten, empfinden das Warten als Zumutung. Ich glaube, es liegt daran, dass wir uns denken: "Warum lässt man uns warten?" Da war man früher, glaube ich demütiger, bescheidener. Man hat das Warten eher akzeptiert. Das machen wir heute auch aus Statusgründen nicht mehr.

Existenzphilosophisch betrachtet empfinden wir das Warten als Problem, weil wir wissen, dass unsere Zeit begrenzt ist. Die menschliche Existenz ist extrem durch Zeitlichkeit gekennzeichnet. Heidegger nennt das "das Sein zum Tode". Wir leben heute in der unheimlichen Bedrängnis, dass wir unsere Lebenszeit maximal nutzen wollen. Wir sehen uns in einem ständigen Optimierungsdruck. Vor diesem Hintergrund erleben wir das Warten natürlich als riesige Bremse auf der Suche nach der bestmöglichen Ausfüllung unserer Lebenszeit.

Wenn man heute Menschen beim Warten beobachtet, beispielsweise im Wartezimmer beim Arzt, dann stellt man fest, dass die Mehrheit diese Wartezeit mit dem Smartphone vielleicht nicht ausfüllt, aber doch überbrückt. Was hat man früher gemacht, als es noch keine Smartphones gab?

Nachgedacht. Vielleicht etwas geschrieben. Sich unterhalten, mit den Leuten im Wartezimmer gesprochen. Ich kenne das noch aus meiner Kindheit, dass sich aus Wartesituationen häufig Gespräche ergeben haben – mit wildfremden Leuten, die zum Teil sehr nett und interessant waren. Man hat sich miteinander unterhalten, um sich gemeinsam die Wartezeit zu verkürzen. Manche Leute haben auch gesungen oder einander Geschichten erzählt, jedenfalls etwas Kommunikatives gemacht.

Wir – und da nehme ich mich nicht aus – beschäftigen uns tatsächlich sofort mit dem Handy. Das ist nicht kommunikativ, das ist einfach eine Ablenkung. Und es verhindert leider auch, dass wir die Zeit nutzen, um einfach mal zu sinnieren, die Gedanken schweifen zu lassen, es vielleicht sogar zu genießen, dass man mal für eine kurze Zeit nichts tun kann.

Eine Fußgängerampel in Bochum zählt während einer Rotlichtphase die Sekunden bis zum Grünlicht (Bildkombo). Die Stadt Bochum zeigt ein Herz für ungeduldige Fußgänger und will weitere Ampeln mit einer neuen "Countdown-Anzeige" einrichten.
Wenn man weiß, wann die Wartezeit endet, warte es sich leichter, sagt Dagmar Borchers. Andernfalls erwarteten wir auch im Straßenverkehr, dass es schnell geht. Bild: dpa | David Ebener

Würden Sie sagen, dass wir mit nachlassender Bereitschaft, uns fallen zu lassen, zugleich ungeduldiger geworden sind? Oder waren die Menschen schon immer genauso ungeduldig wie wir heute?

Ich glaube, dass Menschen immer dann sehr ungeduldig sind, wenn sie sich etwas sehr wünschen, den Grund für das Warten als sehr dringlich empfinden. Das, kann ich mir vorstellen, dürfte auch früher schon so gewesen sein, wenn man auf irgendeinen Brief oder auf bestimmte Nachrichten dringlich gewartet hat.

Aber ich glaube auch, dass die hohe Taktung, die wir durch das Internet und durch die ständige Verfügbarkeit bekommen haben, die Tendenz zur Ungeduld massiv verstärkt. Wir gehen mit der Erwartungshaltung durchs Leben: "Das muss doch alles blitzschnell gehen! Wieso funktioniert das nicht?" Das ist so im Straßenverkehr, an der Supermarktkasse und auch in vielen Alltagssituationen, in denen eigentlich gar nicht zu erwarten ist, dass es blitzschnell geht. Wir sind inzwischen so gepolt.

Was passiert mit uns, wenn wir warten müssen?

Wir erleben das als Behinderung, vielleicht sogar als Zumutung. Der Grad unserer Akzeptanz hängt davon ab, wie wir den Prozess oder die Person bewerten, die uns zum Warten zwingt. Es kann auch mal eine hohe Akzeptanz geben, dass man sagt: "Ich verstehe das vollkommen."

Wenn wir aber denken, dass etwas anders zu organisieren sein müsste, oder das Gefühl haben, dass uns eine Person bewusst warten lässt, dann werden wir ungehalten. Eine Person, die uns warten lässt, spielt ja auch in gewisser Weise ihre Macht aus. Da ist jemand, der uns warten lassen kann! Das erleben wir als Machtgefälle, und das bereitet uns ein schlechtes Gefühl.

Aber ist es denn wirklich so schlimm, wenn uns mal jemand warten lässt? Muss uns das dermaßen ängstigen und runter ziehen?

Nein, in den allermeisten Fällen nicht. Meist geht es um ganz normale Standard-Alltagssituationen, in denen uns das keine Sorgen bereiten muss, sondern einfach nur lästig ist. Es ist einfach unsere Ungehaltenheit, die uns das schlechte Gefühl beschert. Im Grunde müssten wir uns das sagen, was Sie in Ihrer Frage andeuten: Dass es uns gar nicht ängstigen müsste und wir viel gelassener damit umgehen könnten. Es liegt in der Regel an uns, wenn wir uns darüber aufregen. Das sollten wir uns zwischendurch klarmachen.

Welche Kraft könnten wir möglicherweise sogar aus derartigen Situationen schöpfen, in den wir warten müssen?

Ich glaube, dass wir mal wieder runterfahren, uns selbst reflektieren können in unseren Ansprüchen, in unseren Erwartungshaltungen. Das könnten wir machen. Das Sinnieren – das ist wirklich etwas sehr Schönes. Man kann ja auch auf Ideen kommen. Wartezeit kann eine sehr kreative Zeit sein. Wenn man das immer abblockt, indem man sich beispielsweise immer mit seinem Handy beschäftigt, lässt man derartige Prozesse nicht zu.

In Ihren Worten schwingt mit, dass wir es verlernt hätten, zu sinnieren und kreativ mit Wartesituationen umzugehen. Wie können wir das wieder lernen?

Das fängt schon in der Kindheit an und hat etwas mit einem verwandten Thema zu tun: mit der Langeweile. Ich glaube: Der Ansatz, Kinder müssten immer beschäftigt werden, ist falsch. Es muss auch nicht immer ein Angebot geben, damit die Kinder beschäftigt sind. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist zu lernen, sich auch mal zu langweilen. Wenn man sich langweilt oder zumindest nichts zu tun hat, überlegt man sich: "Was könnte ich jetzt mal machen? Oder: Was möchte ich machen, wenn ich aus der jetzigen Situation raus bin?" Das muss man lernen und trainieren, es läuft nur über Selbstreflexion.

Angenommen: Mir ist einfach nicht danach, zu sinnieren. Mir fehlt die innere Ruhe, um mich fallen zu lassen. Wie kann ich die Zeit totschlagen?

Ich würde mich dann auf Anzeichen konzentrieren, dass es weitergeht. Ich würde mir sagen: "Oh, jetzt ist schon wieder eine Person vor mir aufgerufen worden. Das ist prima, es geht weiter!" Oder ich denke mir: Mensch, es kommt mir zwar lange vor, aber tatsächlich stehe ich erst seit zwei Minuten hier. Oder, wenn man Dokumente in der Hand hat, guckt man nochmal: Sind die alle in Ordnung? Irgendwas, um sich zu sagen: "Es geht weiter, ich werde hier bald fertig sein." Da findet sich immer irgendwas!

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Bild: Radio Bremen
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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 29. Juli 2022, 19.30 Uhr