"Ich habe auch Angst": Ukrainerinnen verlassen Bremen und gehen zurück

Eine Frau sitzt mit ihren zwei Kindern auf einer Couch.
Nadiia Pyrozhenko besucht mit ihren Kindern eine Kirche in Bremen. Sie will im August zurück in die Ukraine. Bild: Radio Bremen | Birgit Reichardt

Die Sehnsucht lässt die Risiken verblassen. Nadiia, Oleksandra und Ludmilla wollen nach Hause. Natallia war schon zurück in der Ukraine – und floh zum zweiten Mal nach Bremen.

Sie habe es gemacht, wie die Gastfamilie es gesagt hat: 'Du brauchst nur Dokumente, die Kinder und die Omas.'" Seit Anfang März ist Nadiia Pyrozhenko in Hude bei Bremen. Alles Notwendige hätten sie in Deutschland gekauft. "Ich habe jetzt ganz viele Klamotten, von allem ganz viel, aber ich will zurück, ich will zurück, das ist nicht mein Leben", sagt sie.

In der Ukraine lebe ich freiwillig und ich verstehe, wie das Leben dort geht. Das hier ist nicht mein Ozean. Ich bin wie ein Fisch in einem Aquarium. Ich will zurück. Das ist nicht mein eigenes Leben.

Nadiia Pyrozhenko

Nadiia spricht deutsch. Sie lernte die Sprache, als sie als "Tschernobyl-Kind" nach Bremen kam und später als Au-Pair-Mädchen. Sie sitzt auf einem Sofa in einem Gruppenraum einer evangelischen Freikirche, ihr siebenjähriger Sohn und ihre fünfjährige Tochter spielen ein Zimmer weiter. In der Ukraine besuche sie eigentlich die orthodoxe Kirche, aber "Gott ist überall" und hier möge sie die Musik – Gitarre und Gesang. Das erinnere sie an ihren Mann Volodymyr, ein Musiker.

Ein Kilo Salz und Glück

Nadiia und Volodymyr sehen sich übers Internet. "Wir sind seit 2009 immer zusammen. Wir telefonieren morgens und abends, und er erzählt alles", sagt sie mit fester Stimme, ihre Augen glänzen. "Es gibt jetzt wenig Salz in der Ukraine, weil die Russen alles kaputt gemacht haben", Nadiias Stimme wird lebendiger. "Er hat gestern den ganzen Tag Salz gesucht im Haus, und dann hat er ein Kilo gefunden – da war er ganz glücklich." Und jetzt lachen auch die Augen der 39-Jährigen.

Eine Gitarre, ein Kalashinkov-Gewehr lehnen an einer Holzwand. Am Boden liegt eine Motorsäge.
"Mein Spielzeuge", titelte Nadiia Pyrozhenkos Mann. Der Musiker hat neben seiner Gitarre jetzt eine Kalacshnikow und eine Motorsäge stehen. Bild: Radio Bremen | Nadiia Poroshenko

Jede Zelle in Nadiia scheint Sehnsucht zu fühlen. Sie meint es offensichtlich ernst. Im August will die Biologie-Lehrerin nach Wyschhorod, in ihre Heimatstadt, 15 Kilometer von der Hauptstadt Kiew entfernt. Sie sagt, in Kiew werde alles gut – sicher wirkt sie aber nicht. "Das ist unsere Hauptstadt. Und ich hoffe, unsere Regierung tut alles, dass es in Kiew nicht gefährlich wird. Aber ich weiß, dass Putin auch in Kiew kämpfen wird. Er braucht unsere Hauptstadt."

Zurzeit kehrten viele nach Wyschhorod zurück, erzählt Nadiia weiter. Wegen des Geldes, im Westen der Ukraine seien die Mieten so hoch, das könnten viele nicht bezahlen. Dann kämen die Menschen lieber nach Hause, in die eigene Wohnung.

Ideal wäre es, wenn Putin weg wäre. Die ganze russische Regierung. Wir müssen unser Land zurückbekommen. Mit Donezk, Luhansk und auch der Krim. Ich komme mit meinen Kinder nach Hause und werde weiter in der Schule arbeiten. Und mein Mann wird weiter Musik spielen. Das wird mein Leben, meine neues Leben in der Ukraine.

Nadiia Pyrozhenko

Kleine Schätze für zu Hause

"Meine Gasteltern sagen: 'Du darfst Deine Kinder nicht mit in den Krieg nehmen'", erzählt Nadiia weiter. Und für den Moment wolle sie auch in Hude bleiben. Denn es gebe auch Gutes in Deutschland.

"Wir lernen sehr streng in der Schule. Die Kinder dürfen nichts trinken und auch nicht aufstehen. Hier haben die Kinder mehr Freiheiten." Im Sommer sollen sich Nadiias Kinder hier noch weiter entwicklen. Immer wieder erzählten ihr Sohn und ihre Tochter etwas Neues: "Diese kleinen Schätze, die die Kinder sehen, sammeln wir in unserem Kopf und nehmen sie mit nach Hause."

Wenn sich die Lage nicht verschlechtert, will sie im August den Bus nehmen. Sie habe schon eine Linie gefunden, die direkt nach Kiew fährt. "Wenn mein Mann im August sagt, 'Du kannst nach Hause kommen', dann fahren wir nach Hause."

Schlafen im eigenen Bett: Ludmilla Nasarenko

Eine Frau steht vor einem Gebäude und schaut in die Kamera.
Ludmilla Nasarenko fährt mit ihrer Tochter und ihrem Enkel zurück in die Ukraine. Bild: Radio Bremen | Birgit Reichardt

Es ist Donnerstag, früher Nachmittag. Ludmilla Nasarenko steht in der Schlange für ukrainische Geflüchtete bei der Tafel in Bremen-Hemelingen mit anderen Ukrainerinnen und deren Kindern. Sie reden viel, lachen, Ludmilla ist zurückhaltend, still.

Das Anstehen für Lebensmittel hat für die 48-Jährige bald ein Ende. Sie hat schon eine Fahrkarte; am 30. Juni fährt sie nach Chotiw, einer kleinen Stadt mit weniger als 5.000 Einwohnern, auch nahe Kiew. Sie fährt zusammen mit ihrer Tochter und ihrem zweijährigen Enkel.

Ich freue mich, dass wir nach Kiew fahren, aber ich habe auch Angst, was weiter passiert.

Ludmilla Nasarenko, Ukrainerin vor ihrer Rückkehr nach Chotiw bei Kiew

Zu den ersten Dingen, die sie tun will, wenn sie zu Hause ist? "Schlafen", sagt sie, weil ihr eigenes Bett zu 100 Prozent besser sei als das in Deutschland. Etwas essen und dann durch ihren großen Garten laufen, ihr Mann habe Kartoffeln gepflanzt und Gurken. Sie müsse nachsehen, ob er alles richtig gemacht hat.

"Ich freue mich, dass wir nach Kiew fahren, aber ich habe auch Angst, was weiter passiert", gibt sie zu. Die Deutschen hätten sich gut ihnen gegenüber verhalten, ihnen geholfen. Aber sie wolle zu ihrem Mann und ihren Verwandten.

Nicht mehr nach Deutschland

Ludmilla arbeitet, wie sie weiter erzählt, in einem Kindergarten. Doch der sei zurzeit geschlossen. Sie will sich eine andere Arbeit suchen. "Vielleicht als Freiwillige, vielleicht im Krankenhaus, anderen helfen, denen etwas passiert ist."

Ob sie sich vorstellen kann, noch einmal zurück zu kommen, wenn es nicht gut läuft in der Ukraine? "Nein, das will ich nicht." Dann würde sie eher in den Westen der Ukraine gehen.

"Ich habe keine Kraft": Oleksandra Nikitenko

Zwei Frauen stehen draußen vor einem Container und lächeln in die Kamera.
Oleksandra Nikitenko (r.) spricht fließend deutsch. Sie will im August zurück in die Ukraine. Sie kam mit ihrer Mutter Oksana Nikitenko (l.) nach Bremen. Bild: Radio Bremen | Birgit Reichardt

Ludmilla Nasarenko spricht nur ukrainisch. Übersetzt hat die Patentante ihres Enkels, Oleksandra Nikitenko. Die 29-Jährige hat Deutsch studiert. 2017 war sie für zwei Monate in Bayreuth und Bremen, um das Sprechen zu üben. Das kann sie erstaunlich gut, fließend, lebendig, eloquent. In der Ukraine hat sie die Prüfung auf dem hohen C1-Niveau geschafft, wie sie erzählt. Jetzt wollte sie eigentlich in Deutschland als Deutschlehrerin für Ukrainerinnen arbeiten. Dafür müsse sie den Test laut Migrationsamt wiederholen, weil der fünf Jahre zurück liegt, sagt Oleksandra, die alle nur Sascha rufen.

Dazu wird es nicht mehr kommen; Oleksandra ist müde, wie sie weiter erzählt. Ihr fehle die Kraft, um sich auf diese schwere Prüfung vorzubereiten, die mehrere Monate Vorbereitung bräuchte. Wo die Kraft geblieben ist? "Ich weiß es nicht, ganz unten, irgendwo." Stattdessen will auch Oleksandra nach Hause. Zu ihrem Vater und ihrem Freund.

Niemand weiß, was passiert

Sie hatte in Bremen eine einfache Arbeit gefunden, aber schlechte Erfahrungen gemacht, die ihr offensichtlich auch zusetzen. "Nein, nein, hier will ich nicht mehr arbeiten", sagt sie jetzt. Auch deshalb wolle sie zurück. "Ich bin Deutsch- und Englischlehrerin, und habe noch andere Aufgaben an der Schule. Da habe ich viel zu tun." Aktuell unterrichtet Oleksandra online Schülerinnen und Schüler in der Ukraine. Und sie gibt Privatunterricht.

Ich habe keine Angst. Wirklich nicht. Niemand weiß, was passiert, hier oder in der Ukraine. Das weiß vielleicht jemand im Himmel; da weiß jemand, was mit uns passieren wird.

Oleksandra Nikitenko

Ihr Vater habe ihr gesagt, dass sie in Deutschland bleiben müsse. "Aber vier oder fünf Monate, das ist zu viel für mich, ich möchte nach Hause." Ihrer Mutter habe sie noch gar nicht von ihrer Entscheidung erzählt. Aber sie sei ganz sicher: Ende August geht es auch für sie in die Nähe von Kiew. Angst habe sie nicht. "Wirklich nicht", sagt sie. "Niemand weiß, was passieren wird. Vielleicht jemand im Himmel; da weiß jemand, was mit uns passieren wird.

Von Bremen zurück nach Lwiw – und wieder in Bremen

Eine Frau steht vor einem Gebäude und hält ihren kleinen Sohn auf dem Arm.
Natallia Krauchanka und ihr Sohn in der Bremer Vahr vor einem Eiscafé. Bild: Radio Bremen | Birgit Reichardt

Natallia Krauchanka war von Bremen aus bereits wieder in die Heimat zurückgekehrt. Vor drei Wochen erreichte buten un binnen sie in Lwiw, mit ihren beiden Kindern bei ihrem Mann Serhii. Drei Tage später muss er in die Armee.

"Wir hatten genau zwei Wochen", erzählt die 36-Jährige, die mit ihrem elf Monate alten Sohn Julian vor einem Café in der Bremer Vahr sitzt. "Diese beiden Wochen waren so besonders. Das Leben war fast wieder normal", sagt sie, ihr Blick wirkt, als zögen die Bilder dieser Zeit an ihr vorbei, ein Lächeln in ihrem Gesicht wirkt fast glücklich. Sie habe große Lust gehabt, ihr Leben "zu Hause" einzurichten. Und jetzt sollte sie wieder nach Deutschland? "Damit war ich gar nicht einverstanden."

Doch sie entscheidet schnell. Denn Freunde können sie mitnehmen, sie packt erneut die Koffer und kommt zwei Tage später mit den Kindern in Bremen an: Derselbe Krieg, ihre zweite Flucht.

"Am ersten Tag war ich ganz verloren", erinnert sich Natalia Krauchanka. "Ich konnte das normale Leben anderer Familien nicht sehen." Die ganze erste Woche sei es schwierig gewesen. Dann spricht sie mit einer Freundin, deren Mann auch in der ukrainischen Armee ist: "Ich habe sie gefragt, wie sie das überhaupt macht. Er ist schon vier Wochen weg. Jetzt sprechen wir regelmäßig miteinander. Sie ist auch gläubig und wir beten zusammen."

Natallia ist sich sicher, sie wäre in Lwiw geblieben, wenn ihr Mann zu Hause geblieben wäre. "Ich verstehe Ukrainerinnen, wenn ihre Männer, ihre Familien zu Hause sind. Das ist doch klar, dass sie nach Hause wollen, wenn sie ihr zu Hause noch haben." Die 36-Jährige glaubt, auch die Bürokratie in Deutschland sei vielen eine große Last. "Ich spreche die Sprache" sagt sie, "aber viele verstehen nichts."

Jedes Mal müssen sie andere fragen, ob sie mit zu Behörden gehen können. Bei jeder Frage Hilfe suchen? Jeder Behördengang ist schwierig, und davon gibt es wirklich viele.

Natallia Krauchanka

Ob sie ihren Landsfrauen einen Rat geben könne, weil sie ja schon in der Heimat war? "Das ist schwierig", sagt sie. "Es gibt gerade keinen sicheren Ort in der Ukraine. In Lwiw ist es zurzeit weniger gefährlich, das ist ja im Westen. Aber es gibt jetzt auch Nachrichten, dass es zum Beispiel auch in Kiew wieder gefährlicher werden kann. Das ist sehr schwierig, das muss jeder selbst entscheiden."

"Wir sind noch enger geworden"

Ein Mann in Soldatenuniform, mit Helm und Gewehr sitzt im Wald in der Hocke.
Natallias Mann wird zum Funker ausgebildet. Bild: Natallia Krauchanka

Für sie und ihren Mann seien die zwei gemeinsamen Wochen wichtig gewesen, so Natallia weiter. "Das war eine sehr gute und richtige Entscheidung." Gemeinsame Spaziergänge, gemeinsames Kochen, dass ihr Mann mit den Kindern habe spielen können – so etwas wüssten sie jetzt mehr zu schätzen. Viel hätten sie über die Zukunft gesprochen, wofür sie sich mehr Zeit nehmen wollen, wenn der Krieg vorbei ist. "Wenn man die Gefahr sieht, dass unsere Familie – das will ich gar nicht laut sagen – vielleicht nicht mehr existiert … ich glaube wir sind irgendwie sogar noch enger geworden."

Manchmal denke sie zurück daran, als ihr Freunde in Tschechien noch vor dem Krieg mehrfach anboten, dass ihre Familie zu ihnen kommen kann. Das war im Januar, als Männer noch ausreisen konnten aus der Ukraine. "Aber mein Mann sagt: 'Das haben wir nicht gemacht. Und wir müssen mit dem leben, was jetzt ist.'"

In Bremen lebt die Lehrerin Natallia Alltag mit ihren Kindern. Der kleine Julian bekomme noch nicht viel mit, auch der fünfjährigen Tochter gehe es generell gut. Aber gestern habe sie zum Beispiel geweint: "Weil der Krieg noch nicht vorbei ist und es gefährlich ist für den Papa."

Natallias Mann Serhii ist noch nicht an der Front, er hat keine militärische Erfahrung und wird zurzeit zum Funker ausgebildet. "Mein Mann ist ok, alles ist noch ok", sagt Natallia. "Und ich bete jeden Tag, dass es so bleibt. Und dass er zurückkommt. Ich glaube, dass wir dann noch stärker sein werden als Familie."

Kindertag: Ukrainische Kinder in Bremen verraten ihre größten Träume

Bild: Radio Bremen


Autorin

  • Autorin
    Birgit Reichardt Redakteurin und Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 12. Juni 2022, 19:30 Uhr