Interview

Bremer Organspende-Beauftragte: "Menschen sind nicht gut aufgeklärt"

Eine junge Frau zeigt einen Organspendeausweis in die Kamera.
In Deutschland ist die Zahl der Organspenden im ersten Quartal 2022 drastisch eingebrochen und um rund 30 Prozent gesunken. Bild: dpa | Andreas Franke

Sonja Schäfer ist Organspendebeauftragte für Bremen und Bremerhaven. Zum Tag der Organspende erklärt sie, wie sich deren Zahl in den letzten Jahren entwickelt hat.

Jedes Jahr am ersten Juni-Samstag ist der Tag der Organspende. Im Land Bremen gibt es für Organspenden insgesamt zehn Entnahmekrankenhäuser und eine Organspende-Beauftragte. Seit rund neun Jahren ist das Sonja Schäfer. Die Hauptentnahmeorte für Organe sind in Bremen das Klinikum Bremen-Mitte und das Klinikum Reinkenheide in Bremerhaven. Der Grund: In diesen Krankenhäusern liegen am ehesten Patientinnen und Patienten, die für eine Organspende infrage kommen. Denn Voraussetzung für eine Entnahme ist laut Sonja Schäfer ein irreversibler Hirnfunktionsausfall – eine von vielen Tatsachen, die den meisten Menschen nicht bewusst sei.

Frau Schäfer, was ist der Job einer Organspende-Beauftragten?

Die Aufgabe ist, Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern zu informieren und fortzubilden. Es geht darum aufzuklären, wie eine Organspende durchgeführt wird, welche Bedingungen es braucht, um Organe spenden zu können oder wie der Ablauf im OP ist. Wichtig ist auch, in die Diskussion zu gehen. Darüber hinaus gehe ich auch in die Altenpflege-Ausbildung oder zu medizinischen Fachangestellten. Wenn Schulen mich anfragen, komme ich auch als Expertin in den Unterricht, ich spreche bei Hospizvereinen, Bestattungsinstituten oder im Sportstudio.

Das klingt nach einem breiten Publikum.

Ja. Alle Menschen, die zu dem Thema Organspende mehr erfahren möchten, dürfen bei mir anfragen.

Wie hat sich die Lage der Organspenden in den letzten Jahren in Bremen und Bremerhaven entwickelt?

Im Jahr 2018 gab es einen Einbruch, da hatten wir nur vier Organspenden in ganz Bremen. Das ist extrem wenig. 2019 und 2020 waren es jeweils acht und 2021 hatten wir neun. Das ist insgesamt nicht viel. In diesem Jahr hatten wir bis jetzt sechs Organentnahmen. Es macht Hoffnung, dass es in diesem Jahr wieder mehr werden, als in den letzten Jahren.

Werden die in Bremer Krankenhäusern entnommenen Organe dann auch wieder in Bremen transplantiert?

Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, welche Organe gespendet wurden. Hier in Bremen transplantieren wir am Klinikum Bremen-Mitte die Niere. Ansonsten werden gespendete Organe über die Organisation Eurotransplant nach einer Warteliste verteilt. Es sind insgesamt acht Länder im Verbund von Eurotransplant.

Die Deutsche Stiftung Organtransplantation sprach Anfang April von einem "dramatischen Einbruch" der Organspenden im ersten Quartal für 2022. Die Zahl sei um fast 30 Prozent zurückgegangen. War dieser Einbruch demnach in Bremen nicht zu spüren?

Doch. Auch in Bremen hatten wir im ersten Viertel des Jahres keine einzige Spende. Niemand kann sich erklären, wie dieser Einbruch zu Anfang des Jahres zustande gekommen ist, bundesweit schießen die Zahlen seit April jetzt aber wieder nach oben.

Wie präsent ist das Thema Organspenden bei Menschen im Land Bremen und woran hapert es aus Ihrer Sicht?

Die Kliniken sind in Sachen Aufklärung relativ gut aufgestellt. Es gibt einen runden Tisch, wir sind vernetzt und tauschen uns aus. Wenn ich mitentscheiden dürfte, wäre das Thema aber ganz klar in einem Bereich gesetzt – und das sind die Schulen. Ab 16 Jahren dürfen junge Menschen rechtskräftig entscheiden, ob sie ein "Ja" ankreuzen möchten oder nicht. Für mich hätte Schule eine Pflicht, dieses Thema aufzugreifen. In Bremen ist das aber leider nicht im Curriculum verankert, in anderen Bundesländern schon.

Warum gehört das Thema Organspende in die Schule?

Junge Menschen könnten sich darüber austauschen. Am Gymnasium an der Hamburger Straße findet das Thema zum Beispiel im Unterricht statt. Sie laden mich dazu auch ein und dann diskutiere ich mit den Schülerinnen und Schülern. Sie sind gut in der Lage, für sich eine Position zu finden. Gleichzeitig sage ich immer: Füllen Sie den Ausweis noch nicht sofort aus, nehmen Sie den Ausweis mit nach Hause, fragen Sie Ihre Eltern und besprechen das mit der Familie. Denn auch wenn man das nicht möchte, ist das eine Entscheidung, die die eigene Familie auf jeden Fall entlastet.

Wie meine Sie das?

Wenn man in die Situation kommt, dass man gefragt wird. Wenn es keine Entscheidung gibt und die Angehörigen stellvertretend entscheiden müssen, lehnen sie eher ab. Sie wissen nicht, was der- oder diejenige sich gewünscht hätte. Ich finde, wenn man den Organspende-Ausweis ausfüllt, egal, mit welcher Position, kann man seine Angehörigen entlasten und ihnen diese Entscheidung abnehmen. Ich finde das Thema super geeignet für Schule, das Problem ist aber, es hat mit Tod und Sterben zu tun. Das wird in Schule oft nicht so gerne besprochen, außerdem ist es ein spezielles und komplexes Thema, zu dem es aber tolles Unterrichtsmaterial gibt.

Wenn Sie mit Menschen über Organspende sprechen: Was sind die häufigsten Unsicherheiten, Vorurteile oder schlicht falschen Annahmen, die zu dem Thema kursieren?

Häufig begegnet mir die Idee: Ich bin doch schon viel zu alt. Menschen denken, es gibt eine Altersbegrenzung, aber die gibt es nicht. Die älteste Spenderin in ganz Deutschland war glaube ich 93 Jahre alt. Dann fragen sich auch viele Menschen: Machen die Ärzte noch alles für mich, wenn sie sehen, dass ich einen Organspende-Ausweis habe? Dahinter verbirgt sich die Sorge, ob man auch wirklich noch gerettet wird.

Wie können Sie Menschen gerade diese Sorge nehmen?

Wenn man erstmal weiß, wie der Ablauf ist und welche Kontrollmechanismen und Untersuchungen nötig sind, um überhaupt herauszufinden, ob jemand Organspender sein kann, wird immer sehr schnell deutlich, dass man alles tun muss, um den Organismus aufrecht zu erhalten. Viele Menschen sind nicht über diese Abläufe informiert, besonders wann sie überhaupt als Spender oder Spenderin infrage kommen.

Wann ist denn das der Fall?

Man muss mit einem irreversiblen Hirnfunktionsausfall auf der Intensivstation liegen und künstlich beatmet werden. Es geht also um den kompletten und unwiederbringlichen Ausfall des gesamten Gehirns. Zwei Fachärzte müssen dies unabhängig voneinander nachweisen und diese Diagnostik dauert. Es werden Tests gemacht, ob die Atmung noch funktioniert oder ob es Reflexe gibt. Außerdem spritzt man ein Kontrastmittel, um zu sehen, ob das Gehirn mit Blut versorgt wird. Viele Menschen sind immer erstaunt, dass es nicht so viele Organspenden gibt. Aber wenn Menschen zum Beispiel einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall haben, ist nicht immer das Gehirn komplett geschädigt. Auch wenn nur eine kleine Ecke des Gehirns noch durchblutet ist, kommt dieser Mensch für eine Spende nicht in Frage. Das wissen viele nicht.

Wie viele Menschen warten im Land Bremen gerade auf ein Organ?

Das kann ich lediglich für die Niere beantworten. Im Moment stehen 108 Patientinnen und Patienten auf der Liste, allerdings kommen nicht alle aus Bremen. Sie kommen aus ganz Norddeutschland. Bei der Niere warten Betroffene im Schnitt acht bis neun Jahre, manche haben Glück und warten nur zwei Jahre, andere warten aber 12 Jahre. Wie viele Menschen in Bremen auf ein Herz, eine Leber oder eine Lunge warten, weiß ich nicht.

Das "Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende" ist in Deutschland zum 1. März 2022 in Kraft getreten. Wie bewerten Sie das und worum geht es?

Insgesamt sind gute Ideen dabei, viele davon sind aber noch nicht richtig umgesetzt. Beim Online-Register, in dem jeder Mensch die eigene Entscheidung hinterlegen kann, gibt es auch nach zwei Jahren Streit, wer für die Finanzierung zuständig ist. Da bin ich immer ein bisschen fassungslos. Außerdem ist neu, dass jeder Mensch über 16 Jahren bei der Beantragung von Pässen, Ausweisen oder dem Führerschein zu dem Thema befragt werden soll. Das passiert aber nur alle zehn Jahre. Auch die Beratung, die alle zwei Jahre durch die Hausärzte erfolgen soll, ist erstmal eine gute Idee. Aber es braucht für diese Beratungsgespräche mehr Zeit. In der Ausführung des Gesetzes könnte man also noch mehr Energie aufbringen, die Menschen gut aufzuklären und zu einer Entscheidung zu befähigen.

In anderen Ländern, wie zum Beispiel Kroatien, Schweden oder Spanien gilt die sogenannte Widerspruchslösung. Wer nicht explizit widerspricht, wird automatisch zum Organspender. Wie bewerten Sie diese Regelung und inwiefern wäre Sie auch für Deutschland sinnvoll?

Ganz persönlich halte ist das für eine nicht so gute Lösung. Bei der Ethik geht es immer um eine aufgeklärte, informierte Entscheidung. Ich erlebe aber seit vielen Jahren, dass die Menschen über das Thema nicht gut aufgeklärt sind. Wir haben in Deutschland ein System der aktiven Zustimmung, das wäre bei der Widerspruchslösung anders. Ich erlebe Menschen, bei denen ich Sorge hätte, dass sie so nicht gut informiert zu Organspenderinnen und Organspendern werden würden. Ich glaube, der Weg ist ein anderer.

Autorin

  • Angela Weiß
    Angela Weiß Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 4. Juni 2022, 19:30 Uhr