Welche Chancen hat ein Systemsprenger wie Tom in Bremens Hilfesystem?

Ein kleiner Junge steht am Fenster und hält sich die Hände vor sein Gesicht.
Für Kinder wie Tom gibt es in Bremen offenbar keine ausreichenden Hilfsangebote. (Symbolbild) Bild: dpa | photothek | Thomas Trutschel

Ein zwölfjähriger, stark autistischer Junge hält derzeit zahlreiche Helfer in Atem. Seit Jahren fällt er durch das Bremer Hilferaster. Wie konnte das passieren?

Es gibt sie immer wieder, sogenannte Systemsprenger, die die Jugendhilfe an ihre Grenzen bringen. Zu ihnen gehört offensichtlich Tom*. Sein Fall ist den Behörden und anderen therapeutischen Einrichtungen schon seit Jahren bekannt. Aber offenbar haben er und seine Eltern in dieser Zeit nicht die Hilfe bekommen, die sie brauchten. Tom ist zu einem Jungen mit schwersten Entwicklungsstörungen geworden, für den es keinen Platz zu geben scheint.

Wer ist Tom?

Tom hat gleich mehrere Probleme. Er kann immer noch nicht die einfachsten Dinge im Leben. Er spricht kaum ein Wort und macht sein Geschäft dort, wo es ihm passt. Auch pult er gerne Steckdosen und Lichtschalter aus den Wänden. Wenn er wütend wird, entwickelt der angehende Teenager enorme Kräfte. Er beißt und schlägt unkontrolliert um sich. Offensichtlich kommt er mit sich und seinem Umfeld nicht klar. Aber auch das Umfeld kommt nicht mit ihm klar.

Seine Eltern hatten wohl lange gehofft, ihren Sohn selbst betreuen zu können. Aus Kreisen der Behörden und dem Bremer Hilfesystem ist zu hören, dass sie immer wieder angebotene Hilfen abgelehnt hätten. 2018 gibt es für den damals achtjährigen Jungen eine minimale Beschulung an einer Grundschule. Schon dort wird deutlich, dass er hochgradig beeinträchtigt ist. Und auch schon da reagiert er in bestimmten Situationen äußerst aggressiv. Es gibt ein Gutachten, das empfiehlt, ihn in einem Heim unterzubringen. Doch die Eltern wollen das nicht.

Therapie abgebrochen

Der Eingangsbereich vom Klinikum Bremen Ost.
Tom wurde zunächst in der Kinderpsychiatrie untergebracht. (Archivbild) Bild: Radio Bremen

Die Familie kommt aus einem asiatischen Land, lebt aber schon ein paar Jahre in Bremen. Vater und Mutter sprechen nur gebrochenes Deutsch. 2019 dann brechen sie eine Therapie im Verein "Autismus Bremen" ab. Tom war durch die Medikamente immer sehr schläfrig geworden. Sie machten sich Sorgen. Aber auch danach hätte die Jugend- und Familienhilfe den Kontakt zur Familie gehalten, sagt der Sprecher des Sozialressorts, Bernd Schneider. Doch all die Zeit muss schon erkennbar gewesen sein, dass die Familie völlig überfordert ist. Warum griff das Jugendamt nicht früher und konsequenter ein?

Erst Anfang Mai dieses Jahres ist das Jugendamt gezwungen tatsächlich zu handeln. Der Junge war von der Polizei und dem Krisendienst für Kinder- und Jugendliche in die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Bremen Ost eingeliefert worden. Ein neuer Familienhelfer war vom Jugendamt zur Familie geschickt worden. Er hatte den Jungen für einen Spaziergang mit nach draußen genommen. Danach wollte Tom nicht mehr in die Wohnung zurück, er genoss die Freiheit und wollte sie offenbar nicht mehr aufgeben. Seine Eltern hatten sich die Monate zuvor nicht anders mehr zu helfen gewusst und ihren Sohn in seinem Zimmer mehr oder weniger eingesperrt. Der Vater hat schon zahlreiche Bisswunden am Körper. Endlich wieder draußen, fing Tom aus Protest an, die Blumen aus einem Beet zu reißen und wurde aggressiv. Nachbarn riefen schließlich die Polizei.

Sonderpädagogin kritisiert Bremer Hilfesystem

In der Klinik wird das dramatische Schicksal und die Schwere der Störungen bei Tom offensichtlich. Selbst die Ärztinnen und Ärzte und Pflegerinnen und Pfleger in der geschlossenen Abteilung sind überfordert mit ihm. Sie stecken ihn wochenlang in einen sogenannten Time-Out-Raum, mit Wänden aus Gummi. Das soll ihn vor sich selbst, aber auch die Mitarbeiter schützen. Sie trauen sich kaum in seine Nähe.

Aktuell ist das Hilfesystem zu stark zergliedert, sodass bei den vielen beteiligten Ressorts häufig unklar ist, wer, wie, wann und wo zuständig ist.

Stefanie Höfer, Verband Sonderpädagogik

Doch der Junge gehört da eigentlich nicht hin. Tom braucht intensivste und behindertengerechte Hilfe. Es beginnt eine längere Auseinandersetzung zwischen der Klinik, dem Gesundheits- sowie dem Sozialressort, wegen der Zuständigkeiten und wohl auch wegen der Kostenübernahme. Stefanie Höfer vom Verband Sonderpädagogik sieht genau darin einen Teil des Problems: "Aktuell ist das Hilfesystem zu stark zergliedert, sodass bei den vielen beteiligten Ressorts häufig unklar ist, wer, wie, wann und wo zuständig ist. Ebenso erschweren viele notwendige und parallel zu stellende Anträge, dass Unterstützungsleistungen schnell in die Wege geleitet werden können."

Was Tom wirklich helfen würde

Professor Menno Baumann, Experte für Intensivpädagogik, mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe kritisiert schon lange, dass das staatliche Hilfesystem bei solchen schweren Fällen nicht gut aufgestellt ist: "Wir haben keine schnellen Eingreiftruppen, wir haben keine intensiv pädagogischen – oder in diesem Fall intensivst pädagogischen –  Notfallaufnahmeplätze. Sondern jetzt muss man lange, lange gucken, wann hat irgendwo in Deutschland jemand Kapazitäten frei, um sich so einem Problem zu stellen." Baumann schätzt, dass es bundesweit zwischen 100 und 120 solcher extremen Fälle gibt.

Jetzt muss man lange, lange gucken, wann hat irgendwo in Deutschland jemand Kapazitäten frei, um sich so einem Problem zu stellen.

Prof. Menno Baumann, Experte für Intensivpädagogik

Innerhalb der bestehenden Hilfestrukturen gibt es auch nur wenige dauerhafte Betreuungsplätze für solche extremen Fälle, weil sie teuer und personalintensiv sind. Auch die hiesigen Bremer Einrichtungen für behinderte Menschen haben bisher alle abgelehnt, Tom aufzunehmen. In seinem jetzigen Zustand würde er jede Wohngruppe von behinderten Menschen sprengen.

Damit er aber lernt, mit sich und seiner Umgebung überhaupt wieder einigermaßen klar zu kommen, müsste er rundum die Uhr betreut werden, sagt Baumann. Und seine Betreuer müssten damit anfangen, ganz einfache Dinge mit ihm zu üben: "Wie kann ich mit dem Kind überhaupt grundlegend eine Tagesstruktur aufbauen. Wie kann ich überhaupt grundlegend mit ihm interagieren? Ohne dass es zu Gewalt kommt."

Wie geht es mit Tom weiter?

Inzwischen sind die Eltern wohl bereit, das Sorgerecht abzugeben. Das ist auch ein Teil des Problems: Der Elternwille wird in Deutschland sehr hoch gehalten. Das Sorgerecht kann nur gerichtlich entzogen werden. Das Sozialressort von Anja Stahmann (Grüne) will jetzt prüfen, ob der zuständige Case Manager in Toms Fall zu spät reagiert hat. Und damit auch seine Entwicklung und sein Kindeswohl gefährdet hat. Der Sprecher der Senatorin, Bernd Schneider sagt: "Der Fall wird im Detail aufgearbeitet und bewertet."

Währenddessen sucht das Jugendamt händeringend nach einer Lösung, wie dem Jungen am besten geholfen werden kann. Tom braucht jetzt vor allem eine stabile und verlässliche Umgebung. Und nach Einschätzungen von Experten sind dafür derzeit wohl mindestens 15 Menschen nötig, um seine Betreuung rund um die Uhr zu sichern. 

*Name von der Redaktion geändert

Autorin

  • Heike Zeigler
    Heike Zeigler

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 20. Juni 2022, 7:40 Uhr