Infografik

Neue Bremer Studie warnt vor Missbrauch von starken Schmerzmitteln

Pflaster mit dem Wirkstoff Fentanyl sind in einer Schublade zu sehen.
Extrem wirksam, aber mit erheblichen Risiken behaftet: Fentanyl-Pflaster sollten nur in Ausnahmefällen verordnet werden, sagen Bremer Forscher. Bild: dpa | Carsten Rehder

Die stärksten Schmerzmittel sind zugleich begehrte Drogen. Das gilt auch für Fentanyl-Pflaster, sagen Bremer Forscher. Im "Opioidreport 2022“ raten sie zu anderen Mitteln.

Die gute Nachricht zuerst: "Eine Entwicklung wie in den USA zeichnet sich derzeit nicht ab." So steht es im Opioidreport 2022, den kürzlich das Socium Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Uni Bremen vorgelegt hat. Hauptautor dieser Schmerzmittel-Studie im Auftrag der Handelskrankenkasse ist der am 27. Mai dieses Jahres verstorbene Apotheker und Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske.

In den Vereinigten Staaten kommt es jedes Jahr zu einer großen Anzahl von Todesfällen, "die ihren Ursprung in der langandauernden ärztlichen Verordnung von Schmerzmitteln mit hohem Abhängigkeitspotenzial hat", wie es in dem Opioidreport 2022 heißt. So hätten die USA allein im Jahr 2016 131 Opioid-bezogene Todesfälle pro einer Million Einwohner zu verzeichnen gehabt. Das sind drei Viertel mehr als fünf Jahre zuvor. Die Autoren sprechen von einer "Opioid-Krise", ausgelöst auch durch aggressives Marketing profitorientierter Pharma-Unternehmen. Sogar den Gesundheitsnotstand hätten die Vereinigten Staaten deshalb im Jahr 2017 ausgerufen.

Verordnete Schmerzmittel in der Gesetzlichen Krankenversicherung von 1996 bis 2020

Hier können Sie sich externe Inhalte (Text, Bild, Video…) von Datawrapper anzeigen lassen

Stimmen Sie zu, stellt Ihr Browser eine Verbindung mit dem Anbieter her.
Mehr Infos zum Thema Datenschutz.

Doch so weit Deutschland und Europa von den Verhältnissen der amerikanischen Opioid-Krise entfernt sein mögen, werden auch bei uns seit 1996 kontinuierlich immer öfter Opioide verordnet, wie aus Zahlen der gesetzlichen Krankenversicherung hervorgeht, die Glaeske und sein Team ausgewertet haben. Hiernach haben Deutschlands Ärztinnen und Ärzte im Jahr 2020 etwa dreieinhalbmal so viele definierte Tagesdosen Opioid-haltiger Schmerzmitteln verordnet wie 1996, nämlich 446 Millionen Tagesdosen. Allerdings betrachten die Autoren diese Entwicklung nur bedingt als besorgniserregend. So führen sie den Trend zu immer mehr Opioiden auch darauf zurück, dass die Bevölkerung in Deutschland im Durchschnitt immer älter wird.

Verordnete Opioide in der Gesetzlichen Krankenversicherung 2020

Hier können Sie sich externe Inhalte (Text, Bild, Video…) von Datawrapper anzeigen lassen

Stimmen Sie zu, stellt Ihr Browser eine Verbindung mit dem Anbieter her.
Mehr Infos zum Thema Datenschutz.

An der Spitze der Opioid-Verordnungen in Deutschland steht mit 51,7 Millionen Tagesdosen in der gesetzlichen Krankenversicherung Fentanyl, das den Autoren zufolge hundertmal stärker wirkt als das bereits sehr stark wirkende Morphin. Fentanyl wird laut Opioidreport vorwiegend ambulant eingesetzt, oft als Schmerzpflaster. Glaeske und seine Mitautoren werten diese Entwicklung als problematisch. Denn auch nach der Anwendung enthielten die Pflaster einen hohen Anteil des Wirkstoffes – unter anderem mit der Folge, dass gebrauchte Fentanyl-Pflaster Begehrlichkeiten in der Drogenszene weckten.

Fentanyl-Missbrauch auch in Deutschland

Dazu schreiben sie: "Fentanyl hat (…) bei den zuletzt gezählten 92.000 Todesfällen in den USA eine dominierende Rolle gespielt. Die Hälfte dieser Todesfälle wurde dem Fentanylkonsum zugeschrieben (…). Auch in Deutschland scheint die missbräuchliche Verwendung von Fentanyl bei Drogenabhängigen anzusteigen, worauf einige regionale Entwicklungen hinweisen." So ist es nach Polizeiangaben im Jahr 2020 in Schleswig zu vier Todesfällen durch Fentanyl-Missbrauch im Drogenmilieu gekommen.

Glaeske und sein Team empfehlen den Einsatz von Fentanyl-Pflastern grundsätzlich nur für Patientinnen und Patienten, die nicht schlucken können, und für die daher keine Tabletten oder Tropfen anstelle der Pflaster infrage kommen. Sie stützen sich dabei auch auf die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF-Leitlinien).

Kritik an häufiger Verordnung schwerster Schmerzmittel

Eine Krankenschwester zieht eine Spritze mit einem morphiumhaltigen Schmerzmittel auf.
Stärkste Schmerzmittel wie Morphin sind hauptsächlich für Operationen, nach Verletzungen und bei Tumorschmerzen gedacht. Bild: dpa | Tobias Hase

Kritisch sehen die Autoren zudem, dass Daten der Handelskrankenkasse zufolge starke Opioide wie Morphin oder Fentanyl häufig auch bei Beschwerden verordnete würden, bei denen aus ihrer Sicht auch andere Medikamente infrage kommen – und nur zu etwa 20 Prozent bei Patienten mit Krebsdiagnose, für die derartige Schmerzmittel doch hauptsächlich gedacht seien. Konkret kritisieren Glaeske und sein Team die häufige Verordnung stärkster Schmerzmittel bei "nicht leitliniengedeckten Indikationen wie Rückenbeschwerden, Osteoporose-bedingte Schmerzen und Arthrose".

Die Autoren empfehlen: "Hier sollte das Risiko von stark wirkenden Schmerzmitteln gegen den Nutzen und gegen vorhandene Alternativen abgewogen werden." Als denkbare Alternative nennen sie die multimodale Schmerztherapie, also eine Schmerztherapie, die sich aus vielen einzelnen psychischen und physischen Maßnahmen zusammensetzt.

Autor

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 26. Juni 2022, 19.30 Uhr